Christiane Schlenzig, Dunkle Wolken über dem Meer

Christiane Schlenzig, Doberschau
Dunkle Wolken über dem Meer

Ich starre bewegungslos in die Nacht. Dunkelheit, gerahmt von der Frontscheibe des Wagens. In der Ferne schaukeln kleine Lichtpunkte. Die türkische Küste.
Das Meer brüllt wie ein riesiges angekettetes Tier.
Wir sitzen im Auto und warten – Juana, eine Argentinierin, die ich gerade erst kennengelernt habe, und ich.
In bestimmten Abständen entlang der Küste erkenne ich vage vier weitere Autos, die ebenfalls warten.
Meine Beifahrerin schläft. „Weck mich, wenn es losgeht“, hat Juana gesagt. ‚Losgeht …‘, denke ich und fühle mich wie im Autokino an der Ostsee.
Die schwarzen Wellen, die ziehenden Wolken, der torkelnde Flug einer Fledermaus.
Das Wasser schlägt an die Felsen, klatscht in die Grotte hinein und kommt mit einem düsteren Schmatzen wieder heraus. Ein gewaltiges Pfeifen und Saugen, ein unsichtbarer Riese spuckt graue Wogen. Sie werden hochgehoben, fallen wieder in sich zusammen, ein großes zurückweichendes Loch hinterlassend.
Wie kann jemand unter diesen Bedingungen dort drüben in ein Boot steigen …  
Ein Ort der Schicksale, sagt man.
Bei meiner Ankunft auf der Insel erzählte mir ein Pakista-ner, dass sie mit angedrohten Schlägen auf ein Boot gezwun-gen worden waren. Rucksäcke und Taschen hatte man ihnen entrissen und über Bord geworfen, damit noch mehr Platz geschaffen werden konnte. Nach kurzer Zeit stellte man fest, dass in das völlig überladene Boot Wasser eindrang. Also kehrten sie um, ließen Frauen und Kinder wieder an Land und fuhren mit den verbliebenen Männern die Strecke bis zur Insel.
„The money be wasted“, sagte er.
Das Geld für die Überfahrt der Frauen und Kinder bekamen diese nicht zurück.
„All we need is safe passage“, sagt Juana. „Damit keine Flüchtlinge ertrinken und kein Geld an die kriminellen Schmuggler geht. Außerdem benötigen wir geordnete Einreisekontrollen und …“, sie zeigt auf die Müllberge, „schau dir an, was hier an Umweltschädigung durch Rettungswesten und Boote entsteht.“
Ich sehe dunkle Erhebungen am Strand, wie Robben, die sich vor der Sturmflut an Land geflüchtet haben.
Auf dem Wasser erscheint der Mond, ein funkelnder Farbtupfer ... Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen darf, und halte dem leicht eingebeulten Mond eine Rede:
Man sagt, die Schlepper brauchen die Dunkelheit, um unbemerkt in die griechischen Gewässer zu gelangen.
Schlepper – was für ein Wort!

Sie steht auf dem Balkon. Der Wind pfeift ums Dach, zerrt am Giebel und wirbelt die Reste alter Blätter durch die Luft. Dunkle Wolken ziehen dahin, lassen für einen Moment den Mond hervorblitzen. Eine weiße, leuchtende Sichel. Mit ihr schickt sie Gedankensplitter zur Freundin in die Ferne.

Ich friere und ziehe mir einen Zipfel von Juanas Wolldecke herüber. Juana schläft wie ein Stein, den nicht einmal das kalte Meerwasser aus der Ruhe bringen kann. Sie hat vierzehn Stunden am Stück ununterbrochen Flüchtlinge in Empfang genommen, ihnen die verschmutzten, nassen Sachen abge-nommen, die Ankömmlinge mit neuen Kleidungsstücken und Schuhen versorgt. Sie hat den Wartenden in den Registrierungsschlangen Getränke und Essen gebracht. Immer Freundlichkeit und Ruhe ausstrahlend – Juana kann nur lächeln, glaube ich, na … und schlafen.
Das Gewicht, für das die Schlauchboote ausgegeben sind, ist niedriger als das Gesamtgewicht der Flüchtlinge, und der Preis, den diese zahlen müssen, ist so hoch, dass man damit ein ganzes Dorf hätte wieder aufbauen können, erzählt später ein Syrer, der mit einem Säugling auf dem Arm das grausige Unwetter der Nacht überlebt hatte.
Erinnerungen an Ferientage am Meer.
Vor zwölf Jahren. Zweitausendacht.
Sie wohnte mit ihren Eltern in einem Vier-Sterne-Hotel auf dieser griechischen Insel. Ein Familienurlaub. Es war ein heißer Sommertag. Ein Tag zum Faulenzen. Ein Strandtag. Sie lag eingeölt auf ihrem Bademantel. Sie las damals – vierzehnjährig – die ersten Liebesromane, während ihre kleine Schwester im Sand spielte und es so wirkte, als gehöre ihr mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Lachen der ganze Strand. Wenn der Vater das Schlauchboot aufpumpte, kreischte Kaja vor Freude. Die Schwester konnte schon mit fünf Jahren schwimmen. Wenn das Boot auf den Wellen schaukelte, bombte sie ins Wasser und schnellte wie ein Korken wieder nach oben. Manchmal schlug Kaja mit den Armen um sich – ein wendiger kleiner Fisch ohne Furcht.
Sie aber blieb am Ufer, ließ ihre Füße in den Sand einsinken und schaute zu, wie das Wasser von den Zehen zurückwich.
Gedanken drehen sich im Kreis.
Später Nachmittag. Sie sitzt in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Für ein paar Minuten spiegelt sich die Abendsonne im Fenster. Wie ein Scherenschnitt erscheint ihr Halbprofil auf dem Vorhang, der das Zimmer teilt. Da kündigt ihr Laptop eine neue Nachricht an:

Als wir ankamen berichtete uns ein diensthabender Offizier des griechischen Heeres, er sei Koordinator des gerade eröffneten Registrierungszentrums.
In den sogenannten Hotspots seien noch drei weitere Offiziere der griechischen Streitkräfte und viele Mitarbeiter der europäischen Grenzschutzagentur Frontex tätig.
Hinzu kämen Mitarbeiter der Ärzte ohne Grenzen, des spanischen Roten Kreuzes, der Caritas und die vielen freiwilligen Helfer – ein bunter Haufen. Es sei das erste Mal, dass er es mit Flüchtlingen zu tun habe und mit Mitarbeitern aus den verschiedensten Ländern.
Nach seiner Begrüßungsrede schickte er uns auf den Hügel zu den Zelten. Es wurde schon dämmrig.
Wir stapften mit Taschenlampe, Decken und Schlafsäcken bepackt über unebenes Gelände. Die Flüchtlinge kamen uns schon entgegengelaufen.
Die Situation im Lager Moria hat sich dramatisch zugespitzt. Die 25.000 Menschen leben in Zelten und Notunterkünften aus Plastikfolie. Es gibt für 5.000 Menschen keinen Zugang zu Toiletten, Duschen, Trinkwasser und Strom. Die Spielsachen der Kinder sind verdreckt.

Leichen überall. Von den Wellen ans Ufer gespült.
Ein Baby. Der Mund des Kindes offen, Wasser schwappt heraus, der Kopf ruht an der aufgeblähten Brust einer Frau.
Menschen frieren. Kinder weinen.
Sie versucht, mit Worten zu trösten, klopft einem jungen Mann Mut machend auf die Schulter, hält ein weinendes Kleinkind im Arm, das seine Mutter verloren hat.
Ihr ist es ganz warm und inniglich vor Mitgefühl …
Plötzlich dröhnt ein Maschinengewehr an ihr Ohr.
Es entfacht sich ein Feuer, Flammen stürzen auf sie zu, kommen ihr gefährlich nahe.
Sie rennt, stolpert über Trümmerberge. Hubschrauber gleiten im Tiefflug über die Stadt. Ihre Raketen pfeifen durch die Luft, pusten reihenweise Häuser um.
Die gerade noch gespürte Wärme schlägt um in heiße Angst. So fühlt sich Gefahr an, denkt sie ...,
und … erwacht. Ihr Herz rast.
Sie kriecht unter ihrer warmen Wolldecke hervor. Hände und Gedanken zittern. Die Schreibtischlampe flackert und das Bücherregal bewegt sich bedrohlich langsam auf sie zu. Schatten, wie schwarze Blutflecken, schaukeln an der Zimmerdecke. Albträume haben sie im Schlaf verfolgt.
Der Laptop – wachsam neben ihr auf dem Schreibtisch – schweigt. Sarah schweigt.
Das Zwitschergeräusch, wenn sie ihre Berichte schickt, ist heute ausgeblieben. Sie hatte auf Sarahs E-Mail gewartet und ist darüber eingeschlafen.
Voller Bewunderung, Anerkennung hatte sie jeden Abend die Berichte aus Lesbos gelesen – beschämt, reumütig auch. Sie hatte die Freundin allein fahren lassen, wollte sich die Urlaubserinnerungen an die Trauminsel von damals nicht durch Horrorgeschichten zerstören …
Plötzlich erklingt ihre WhatsApp-Melodie. Wie eine Gefangene in Einzelhaft, die gierig nach ihrer täglichen Ration Wasser und Brot greift, tastet sie nach dem Smartphone, ent-sperrt es. Liest:
Sorry, ab heute keine Berichte mehr. Muss meine Sachen packen. Morgen früh sollen alle Volontäre Lesbos verlassen. Rückholaktion wegen Coronapandemie. LG Sarah