Elena Seifert - TETIGIT Poem (übersetzt von Wendelin Mangold)
Elena Seifert
TETIGIT
Poem
halbhimmels aufgeht abesse
die andere Hälfte gleicht der allergröbsten Fuhre
der Fuhrmann gleißt
welche Farben seine Halsadern triumphierend surren
Horaz‘ Muskel ballt die Zungenfaust
fliehenden Gaumen leckt Katulls Muskel
Mädchen – lataienische Sprache
sie ist ein schamhaftes Mädchen
ihre Brauen überqueren das hochrote Mohnfeld
die Fuhre fährt in die Nüstern zweigeteilt
das Mädchen reckt den Kopf und gurgelt Leere
Menschen wohnen in ihrem roten Rachen auf kurzem Steg
zwischen Verzehren und Atmen
sie verwandeln sich in der Zungenspitze
Nadeln
scharfe Pausen nach siebter Silbe der Horazode
süße unmögliche Schläge gegen den Mäzenen
antirömische Erklärungen
gekleideter Götter
oh Beie
oh irdisches Paradies überstreut von Willen Freigeborener
wie spöttisch der Blick auf dich in dieser Kristallpause
wie geschärft die Spitze des Lateinischen
zerschneidet das goldene Halfter des Pegasus
eine Hummel, Hummel im Sonnennetz
Vibrationen des schallenden Lichts in der Höhle
Leibbewohner der lateinischen Sprache
üppige Haarbrücke tangere
mit Lichtblick der Leere
über dem Fluss des dichten Karmins
Grimasse
Lichthügel der Zunge
weint das Idol
zu kurz ist ihm
die Soldatentunika
im hohen unsichtbaren Himmel wetteifern in Ekstase
das Handtympanon und Jägerhorn
dünnes Härchen
zwischen
Takt und Taktil
Bogensehne und Gleichmaß
auftaucht Tetigit aus den geraden Bogenschultern
erlaubt sich zu umarmen
zu schmecken
mit Blitz zu treffen
mit Pflug zu berühren
zu begießen
zu durchwühlen
zu verführen
Latein berührt seine Mitte und wird zur Grenze
er steigt ans Ufer und verschwindet
Tetigit der Berührungsprozess
im frühzeitlichen Augenblick jedoch möglich anzutasten
lieber Wahnsinniger
dessen Gesten tauchten unter in die borkige Ledersohle
und das Pfropfenspinnwebe der Sandalen
lädt das Mädchen zum Tanz ein – lateinische Sprache
ihre Figuren Wendungen Schritte und Posen sind aus Stein
in der Luft hängen geblieben
wie fliegende Fische und hölzerne Vögel ohne Federn und Füße
mit eingeborener vorsprachlicher Begierde
und Flugvermögen
die Spitze der lateinischen Sprache
liebkost
die Pupillen
den Tapferen
der das Brot dem Priester der Kybele wegnahm
und mit Efeu kitzelte den Rachen des linken Löwen in ihrem Halfter
der minderjährige Poet auf Mutterschoß legte die Handflächen
an den runden Mund
und atmet den Hymnus ein
tangere carmina
Tetigit durchdringt Latein
gibt ihr Querschnittsstunden der Extase
er ist ihre innere Landschaft
Equilibristik ihrer Muskeln
Radarleuchten großer Rose ihrer Geburtshimmel
sie verstehen einander ohne Worte direkt an der Mündung des Karminflusses
und Tetigit fließt in die Sprache
und steigt lebendig aus dem Wasser
wenn das Mädchen ihn ruft
sich selbst vor den Augen aller materialisierend
sie sagt – Berge Stier Gott
die Kilikische Pforte trennt graziös und mächtig die Bergkette
hochfliegend
erschöpft die Berghänge des Taurus von Feuchtigkeit begehrenden Vegetation
des Lorbeers
der Myrte
der Zistrose
je höher
geht Heidekraut über in Zypresse
Zypresse in Zeder
die Zeder hat hier Heidekrautwurzeln
auf brüllendem Meer schwimmen Schiffe mit Honig
blonder Reiter
kniet vor dem geteerten Gegenreiter
und zieht das rote Schwert aus seiner Brust
Latein reibt mit der Handfläche den Krampfmuskel Vergils am angespannten Genick
die klingenden Episteln ihrer Syntax erheben sich über den Text
in der Zukunft und der Vergangenheit
ihre Kurven machen sichtbar die Grafik die Dinge
durchbrochenes Gespann mit goldenen pfeilartigen Flügeln!
die ersten Flugapparate!
das ist Juvenal am Lateinfingerchen im Fingerhut versteckt
und Seneca erzieht Neron über seinem Tron hochfliegend
alles lässt sich erklären mit banaler Physik
durch den Druckunterschied des Worts und des Hologramms
Tetigit widerspiegelt von der Erde aus die Flutstörung vom Flügel
bindet die Luft an den Lippen der Herkules
die Pfeile giftbefeuchtet
Lateingeliebter wird Ambos und Hammer des Ohrs
Mädchen-Sprache vibriert
sich erneut in ein Poem verwandelnd
in ein von eigenem Schrei taubgewordenes Mädchen
in zum Leben erwachten Albatrosschatten
in Bootsboden oder Brotkrümel
in Toskanisch-Emilianisschen Appenin
in langen-langen wahnsinnigen Karaminfluss
Tages- und Nachtströme in sich aufnehmend
Latein mündet trichterartig in sich selbst
gleichzeitig zurückkommend
Tetigit isst geschlossenen Augs Fleisch des Lauts
salziger Schaum leckt die weißen Knien und Füße der lateinischen Sprache
auf scharlachrotem Stein
Agnus Dei
von der Pinzette des hochgeflogenen Verbs tropft das Thyrrhenische Meer
Kommentar
Die Energie ist im Poem das Wichtigste. Kenntnis der lateinischen Sprache ist für den Leser zweitrangig. Latein wird mit dem Spiegel aufgefangen. Wichtig ist die Drift und Expansion der lebendigen Ströme, Unvorhersagbarkeit neuen Abhangs oder Aufstiegs gleich der Hypoglossuskollonade.
Abesse – Nichtsein. Tangere – berühren. Tangere carmina – Gedichte schreiben. Tetigit – gerührt sein. Agnus Dei – Gottes Engel.
Aus dem Tagebuch
In mein gewöhnliches Russisch und Deutsch drang gebieterisch Anfang Mai 2016 Latein (es klopfte schon seit Januar an) neue Nachdichtungen aus Horaz, Catull, Ovid, Martial und mein eigenes Poem „Tetigit“, das ich heute abgeschlossen. Eine ungewöhnliche Luftfront, mir zum Glück heftig zunehmend an Schaffenskraft, die mir bis dato unbekannte Aufblitze der Euphorie. Besonders Mitte Julei, als das Poem und die Übersetzungen wie Butter nur so flossen.
Ich beschloss, das Poem heute abzuschließen, da ich spürte, wie sich die Luftmasse des Latein schon zeitweilig wegbewegte, um wohl noch mächtiger zurückzukehren, aber wann? Bildlich gesagt wie die mathematische Hypothese Riemanns über den Zerfall eines freien Risses, zwei Zeitgebiete mit