09.01.2025 - aktuelle Autorin - Annalisa Hartmann

Die 25-jährige Schweizerin Annalisa Hartmann(link is external) stammt aus Bern, hat an der dortigen Universität(link is external) Germanistik studiert und arbeitete seit 2013 als Redakteurin bei der Tageszeitung Zürcher Oberländer. Wurde 2015 zweite Artist in Residence in Vechta. Ihre Auseinandersetzung mit Stadt und Menschen in Vechta erschien im Geest-Verlag als Buch mit dem Titel 'Windstill los durch Vechta'.

Im Jahre 2025 erschien ihr Buch 'Glitzermensch'

Windgedicht in Notizen

I
Es ist ein sonderbares Gefühl, beim Pferd zu stehen. Als Fremde. Immer noch. Schon wieder. Ein bisschen wie mitatmen zwar, Eis essend auf die fünfte Jahreszeit warten. Geheimnisse streng bewahren. Im April keine Töpferkurse besuchen, aber perfekte französi-sche Gärten dressieren. Beim Singen in der Kirche die anderen übertönen und beim Vaterunser eine Na-senlänge voraus sein. Rund um die Uhr „Moin“ sagen. Bloß, ein bisschen stickig ist es hier.
Mitatmen und auf einmal nicht viel mehr als dieses „Moin“ sagen können. Auf Unterstützung angewiesen sein. Bei jeder Bewerbung im Kopf haben: als erstes kommen die Deutschen, dann die EU-Bürger und dann ich.
Windstille –
bläst mir Greifbares und Ungreifbares durch den Kopf. Schweinemast, Dünger, Wald, Stierbräu, Kaffee, billiges und teures Parfüm, Zimt, Schweiß und Ziga-rettenrauch führen ihre riechbaren Dialoge.
In Gruppen sitzen sie zusammen und reden. Zwei Frauen und ein Mann mit Kaffeebechern auf der ers-ten Bank. Zwei Frauen und ein Mann ohne Kaffee, dafür mit Zigaretten auf der zweiten Bank. Auf der dritten Bank ist es still. Dort sitzt allein und schwei-gend ein Mädchen.
Windstille –
herrscht für alle am gleichen Tag.


II
Auf der Strasse
soll man die Gefangenen erkennen, die gerade Ausgang haben.
Ich sehe nichts – einfach Menschen.
Kirche, Campus, Hospital, Kreuze, Tränen,
wirbeln wild durcheinander. Und ich stehe am Pferd und schaue einfach nur zu.


III
Stehen bleiben oder weitergehen? Weitergehen oder weiterstehen? Haltlos wie Schweinehospital, Zimtge-fängnis, Campusbräu, Parfümträne, Kirchenwald, Kopfrauch, Gedankenwehen. Und manchmal sind alles nur Steine einer grossen Mauer. Und manchmal ist alles auch nur Wind.


IV
Dichtes Windgericht. Was sich noch alles drehen muss, bis ich in der richtigen Jahreszeit ankomme, das weiss ich nicht. Keine Ahnung, welche Nummer die trägt. Und nach jeder Runde wird neu gemischt.


V
Vergessen gehen. In den perfekten französischen Gar-ten gepflanzt, aber nicht mehr begossen. Inhaftiert im Zimtgefängnis, aber ohne Zucker. Versorgt mit Cam-pusbräu, aber ohne Campus. Und das Windgedicht schreibt sich fort.


VI
Vergessen gehen und immer noch da sein.

 

aus:

 

 

Annalisa Hartmann

Windstill los

durch Vechta

Geest-Verlag 2015