Lan Anh Vu - Luft zum Atmen (aus der Anthologie zum 3. Vechta JUgendliteraturpreis)
Hördatei:
Lan Anh Vu (Garrel, 17 J.)
Luft zum Atmen
Raschelnde Buchseiten, tiefe Eismeere, ein duftendes Bou-quet. Die Gedanken wandern zu Erinnerungen an Dinge, die nicht mehr sind. Und der Alarm geht los:
„Massenbestattung | Sozialinstitut | 13:15“.
Die physischen Überreste der Opfer des Gebäudeeinsturzes von letzter Woche müssen entfernt werden. Unangenehme Gerüche würden nicht entstehen. Die Kühltechnologie, die Kollegen und ich vor Jahren innerhalb eines Monats entwi-ckeln mussten, wird ständig optimiert, damit die Leichen niemanden belästigen. Es ist bloß nicht möglich, die Toten länger bei uns zu behalten. Denn die Windkraftanlagen machen es nicht mehr lange, diese ganze Gegend macht es nicht mehr lange. Klar erkennbar am von Kratern durchsetzten Boden, der unter meinen funktionalen Uniformschuhen zerkrümelt. Platz für Eigenarten gibt es hier nicht, hat es nie gegeben. Allein die Hoffnung, dass ich einmal ich sein könnte. Die gab es. Aber dieser naive Traum ist gestorben und ich verstecke mich nun. Die anderen verstecken sich auch. Schon immer waren sie Geister ihrer selbst, Produkte der Vorstellungen anderer. Doch dann kam diese Zukunft, in der alle gleich sein mussten, um nicht zu sterben. Abgelau-fen die Zeit und verloren meine Chance, die anderen zu befreien. Die wahrlich Freien – sie sind fortgegangen. Sie ha-ben mich verlassen, Übermut bot manchen auch den endgültigen Weg aus dieser Welt.
Die Todesfälle der letzten Woche sind bestattet. Sie dienen nun als Dünger, um uns zu ernähren. Vor 40 Jahren wäre diese Methode das Nonplusultra an ethischer Verwerflichkeit gewesen. Doch man muss bedenken, dass Viehzucht abgeschafft ist und pflanzliche Dünger allein nicht reichen, um die Versorgung der Menschheit zu sichern.
Der Zweck heiligt die Mittel, wie immer. Das Kollektiv lebt, seine Bestandteile überleben lediglich. Ich habe mich in jedem Moment meines Lebens dagegen gesträubt, ein sinn-loses Dasein zu fristen. In meinen Gedanken, in meinen Erinnerungen kämpfe ich weiterhin für meine Gefühle, doch ich kann nicht widersprechen, dass es von außen nicht den Anschein hat. Auch ich überlebe lediglich. Mein gesunder Menschenverstand schließt sich auch ohne Glauben und Religion der breiten Masse an, die sich nicht gegen ihre Lebensumstände zu wehren vermag. Wie denn auch?
Ohne einen Traum kann ein Mensch nicht inspiriert werden – und die Menschen haben das Träumen längst verlernt. Der Optimismus, den die erste Mondlandung gebar, ist uns fremd. Meine Großeltern hatten auf dem Erdmond ihre Pension und ihr Heimweh war nicht zu übersehen. Am Ende will jeder nur zu Hause sein.
Niemand kann behaupten, dass eine Lebenserwartung von 96,7 Jahren für Frauen und 94,9 für Männer einen wirklichen Nutzen hat, wenn sie nur Zahlen sind. Wenn das Leben nur daraus besteht, auf die nächste Nuklearkatastrophe zu war-ten. Oder auf die Mitteilung, dass ein weiterer Planet über-völkert ist.
Das Kollektiv hat sich selbst verletzt durch egoistische Gier, und die Bestandteile müssen dafür büßen.
Meine ganze Arbeit beruht darauf, dass ich mit dem knapps-ten Ressourcenaufwand wie möglich den Fortbestand dieser desillusionierten Spezies sichern muss. Weniger, um den Gewinn zu maximieren, sondern weil es nicht mehr Res-sourcen gibt, die wir verschleudern können.
Wir lernen eben nicht aus unseren Fehlern. In der Vergan-genheit hat jede Form von menschengemachter Politik versagt. Trotzdem wählen Menschen weiterhin Menschen in führende Positionen. Sie brauchen Emotionen in einer Welt, in der weder Natur noch Freude existieren. Und vergessen dabei, dass es ihren Hoffnungsträgern genauso ergeht.
Ich bin einer dieser Hoffnungsträger. Ich will nicht diese Rolle spielen, ich will diese Verantwortung nicht übernehmen. Trotzdem kann ich die anderen kaum dafür hassen, dass sie ihre Hoffnungen auf ein besseres Morgen mir übergeben.
Mir bleibt niemand, dem ich meine Gefühle offenbaren kann. So spiele ich Erinnerungen in Gedanken durch. Ich akzeptiere die Last, die mir andere aufbürden, weil ich keinen Ausweg sehe.
Konzentriere dich. Du hast eine Aufgabe. Sie ist wichtig. Andere verlassen sich darauf, dass du sie zuverlässig erfüllst. Konzentriere dich!
Auch wenn es keinen Platz für meine unprofessionellen Ansichten gibt, immerhin kann mein Gehirn noch diese Überlegungen anstellen. Immerhin bin ich noch am Leben. Im-merhin habe ich noch Luft zum Atmen.
Der nächste Alarm läutet und reißt mich zurück in die erwartungsvolle Gegenwart.