Agnete Book - Mein langer Weg zum Seniorenstudium (Literatur in schwierigen Zeiten)
Mein langer Weg zum Seniorenstudium
Im letzten Jahr vor meinem Abitur gab es immer wieder eine Situation, die mich sehr belastet und frustriert hat. Unsere damalige Geschichtslehrerin fragte von Zeit zu Zeit alle Mädchen unserer Klasse der Rei-he nach, was sie werden wollten. Die meisten antwor-teten: „Lehrerin.“ Das war damals der gängige Beruf für Frauen.
Da ich aber überhaupt nicht wusste, was ich werden wollte, aber ja irgendetwas sagen musste, antwortete ich wie die anderen: „Lehrerin.“ Prompt kam folgende Reaktion von besagter Geschichtslehrerin: „Was? Agnete? Du und Lehrerin? Dass ich nicht lache!“ Und mit einem ironischen Grinsen befragte sie die Nächste.
Mit diesem Ausspruch, der mich immer wieder tief getroffen hat, hatte sie im Grunde jedoch nicht ganz unrecht. Jede andere aus meiner Klasse war besser geeignet, diesen Beruf zu erlernen, als ich; denn ich war selbst in der Oberstufe noch so ängstlich und schüchtern, dass ich mündlich nur ungenügende Leistungen erbringen konnte.
Aber was tun? Am liebsten von einem ‚Prinzen‘ erlöst und errettet werden und mich vor der Welt, dem Leben und seinen Anforderungen, verstecken. Denn ich hatte nicht das Gefühl, all dem gewachsen zu sein. Das war die einzige Vorstellung für meine Zukunft.
Den ‚Prinzen‘ hatte ich inzwischen gefunden, nur mein Vater spielte nicht mit, sondern bestimmte, wie bei meinen sechs älteren Geschwistern auch, meinen Beruf. Er sagte: „Du wirst Lehrerin! Schließlich haben wir die Pädagogische Hochschule direkt vor der Tür und so kannst du zu Hause wohnen. Das ist am billigsten.“
Damit war das Thema der Berufswahl erledigt. Eigene Meinungen und Wünsche hatten wir Kinder nicht zu haben und schon gar nicht zu äußern.
Also schickte ich mich in mein Schicksal, denn mein Vater hatte gleichzeitig verfügt, nur nach dem ersten Staatsexamen dürfte ich meinen ‚Prinzen‘ heiraten. Also hatte ich nicht viel gewonnen, sondern schrieb mich mit einer Freundin zusammen in der Pädagogischen Hochschule in Vechta ein.
Meine Unsicherheiten und Ängste waren jedoch so groß, dass ich nur die Fächer belegte, die auch meine Freundin belegt hatte. Allein wäre ich nirgends hingegangen. Deshalb waren es nicht die Fächer, die ich gern genommen hätte, abgesehen davon, dass ich gar nicht wusste, was ich gerne oder überhaupt studieren wollte. Alles war nur schrecklich! Und doch musste ich ja das erste Lehrerexamen bestehen, denn nur da-nach durfte ich heiraten. Dann, da war ich mir ganz gewiss, würde ich niemals als Lehrerin tätig sein müs-sen.
Vielleicht half mir dieser Gedanke, die Qualen des Studiums auf mich zu nehmen. Ich weiß es nicht mehr. Weil ich aus finanziellen Gründen bei meinen Eltern wohnen musste, hatte ich nie ein wirkliches Studentenleben. Spätestens um 22.00 Uhr musste ich zu Hause sein, sonst wurde ich von meinem Vater als ‚Bardame‘ tituliert. Meine Mutter hatte meinen Stun-denplan in der Küche aufgehängt, um mich unter Kontrolle zu haben. Doch ganz so, wie sie geglaubt hatte, lief es nun doch nicht bei mir. Meine Freundin – sie kam aus Delmenhorst, was für mich damals die große weite Welt bedeutete – hatte eine eigene Stu-dentenbude und so verbrachte ich 2/3 meines Studi-ums mehr oder weniger auf ihrem Zimmer. Die PH habe ich nur selten von innen gesehen, denn die Testate am Semesterende bekam man so oder konnte sie sich sogar von anderen Kommilitonen holen lassen.
Bei Klausuren war mehr oder weniger auswendig gelernter Stoff gefragt. So blieben nur die vier Schulpraktika, die ich mit Todesangst hinter mich brachte. Laut sprechen vor anderen Menschen, und wenn es auch ‚nur Kinder‘ waren, war für mich unvorstellbar und ich musste dazu praktisch zu einer anderen Person wer-den. Ich stand dann in der Klasse wie neben mir und erlebte mich als eine Fremde, die nichts mehr mit mir zu tun hatte. Mein Zittern und die schweißnassen Hände und meine Stimme, die mir nicht gehorchen wollte, raubten mir meine letzten Kraftreserven.
Als das Examen näher und näher kam, war ich fest davon überzeugt durchzufallen, und so wäre es auch beinahe geschehen. Denn als ich in die Psychologieprüfung ging, war das Erste, was der Professor zu mir sagte: „Sie habe ich ja noch nie gesehen.“ Das fing nicht gerade optimal an und doch habe ich alle Prüfungen geschafft.
Genießen konnte ich den Erfolg allerdings nicht, im Gegenteil, er machte mir furchtbare Angst, denn im Gegensatz zu heute bekamen wir damals ganz schnell eine Stelle als Lehrerin an irgendeiner Schule in der Umgebung. Das einzig Positive war, dass ich nun endlich heiraten durfte, was wir dann auch getan haben.
Jetzt überspringe ich mehr als dreißig Jahre meines Lebens und komme endlich dem Seniorenstudium näher.
Diese Jahre, die zwischen meinem damaligen Pädagogikstudium lagen und der Chance, noch einmal zu studieren, waren von harter und schwerer Arbeit an mir selbst geprägt und von vielen kleinen und größeren Entwicklungsschritten.
Und so wollte ich statt des damaligen ‚Fruststudiums‘ ein ‚Luststudium‘ wagen, und zwar noch eine Stufe höher, nicht mehr an einer Pädagogischen Hochschule, sondern gleich an einer Uni. Verwegen!!
Zwar hatte ich wieder eine Freundin, mit der ich die ersten Schritte machte, doch diesmal traute ich mich auch, endlich Dinge allein durchzuziehen. Allein durchs Gebäude zu laufen, Räume zu suchen und endlich zu finden, und vor allem, mich aktiv in den Seminaren zu beteiligen und meine Meinung zu sagen. Alles Kleinigkeiten, für mich aber Riesenschritte. Die Angst, die auch jetzt nicht verschwunden war, immer wieder zu überwinden und mich neuen Herausforderungen wie dem Studium und zum Beispiel auch einer Schreibwerkstatt zu stellen, bedeuteten für mich den Weg in die Freiheit. In die Freiheit von Ängsten, die das Leben beherrschen und einengen. Wieder ein Schritt in die richtige Richtung, für den es sich lohnt zu kämpfen.