ANDREA LAUER, Schneewittchens Sargdeckel

ANDREA LAUER, NAUEN
Schneewittchens Sargdeckel

Ich bleibe hier. Immer. Ich liege. Tag um Tag um Tag liege ich im Bett. Ich schaue an die Decke. Ein Scherzkeks hat eine Glas-scheibe eingelassen. Frank heißt der Scherzkeks. Frank ist mein Bruder. Frank reist und reist und reist. Immer. Um die ganze Welt. Mit dem Flieger, wie er salopp sagt. Und weil ich eben nicht reise, sondern liege, hat er mich kurzerhand in ein Heim verlegen lassen. Hat das Dach abgetragen und stattdes-sen eine Glasplatte obendrauf gelegt. Wie der Deckel auf Schneewittchens Sarg. Nur, dass ich keinen Apfel verschluckt habe, sondern jede Menge Wasser. Mein Personal war dann öfter auf dem Dach als in meinem Zimmer. So ein Dach ist ja auch nicht ständig schlecht gelaunt, sagt Frank, und recht hat er. So ein Dach zahlt aber auch nicht halb so gut wie Frank, also kommen die Leute jetzt wieder an mein Bett und lesen mir vor. Alles, was sie zwischen die Finger kriegen. Die Bild. Die Bravo. Den Duden. Den Brockhaus. Die Bibel. Und Mickey Mouse. Sie glauben, ich kriege nichts mit. Sie lesen nur wegen Franks Kamera. Wenn ich je wieder hier rauskomme, hab ich ein derart gefährliches Halbwissen, dass ich in einer Talkshow auftreten und es meinem Bruder heimzahlen kann. Mein Leben lang werde ich in Saus und Braus leben. Und das nur wegen einer Kamera, die mein Bruderherz hat einbauen lassen, um das Personal zu überwachen. Die Kamera, wegen der ich mich nicht traue, in der Nase zu bohren. Gut, das kann ich nicht, aber die potenzielle Möglichkeit, die zählt. Ich liege. Sehe in den Himmel. Jeden Tag. Möchte ihn einmal kennenlernen, den Himmel, einmal zu ihm auffliegen, mich vorstellen, wo ich ihn doch nun schon immerzu anstarre. Heute ist er verdeckt. Verdeckt, nicht bewölkt. Ich liege. Sehe gen Him-mel, der heute so ganz und gar unvertraut scheint. Ich sehe dem Mann zu, der sich bemüht, den Sargdeckel, in dem mein Bruder den Zugang zur Welt erkennen will, sauber zu bekommen. Bekommt er nicht. Jedenfalls nicht so, dass Frank zufrieden wäre. Wir sind halt eine Familie mit Ansprüchen. Frank will, dass die Leute für ihr Geld anständig arbeiten. Ich will unbeobachtet in der Nase bohren können. Potenziell. Nach dem zweiten Anschiss legt der Mann sich richtig ins Zeug, genauer: auf die Glasplatte. Seine Haut auf dem Glas erinnert mich an die Nase meines Bruders, die er als Kind am Küchenfenster platt gedrückt hat. Das wird so nichts, denke ich, und recht habe ich. Frank sieht das auch so. Er geht raus, brüllt gen Himmel, er möge verdammt noch mal da runterkommen. Und der Mann, der mir klare Sicht bringen sollte, liefert den Klassiker. Er steht auf, als wäre die Platte zum Stehen, nicht zum Gucken gemacht. Ich höre es knirschen, noch bevor ich das Glas reißen sehe. Es kommt, wie es kommen muss, das Arrangement bricht zusammen, der Mann landet auf mir, liegt reglos wie ein Liebender, atmet fünf Atemzüge, tief, als sei er froh, sich noch atmen zu hören. Stemmt sich auf. Sieht mir in die Augen, bemerkt das Meeresblau. Erst sind die Strudel meiner Iris noch klein, dann größer, und ich lasse sie gewähren, als sie den Mann vom Dach einsaugen. Der Mann dreht sich und dreht sich schneller, taucht ein in mein Augenmeer. Seine Hand, die an der linken Taille, gleitet hö-her, am Brustkorb vorbei, beinahe, aber eben nur beinahe, erfasst sie meinen Busen, der sich in Erwartung eben jener Berührung strafft. Mein Bruder stürmt zur Tür herein. Schreit, der Idiot solle sofort, wobei er das Wort sofort großbuchsta-big ausspricht, von mir runterklettern. Der eine Trottel hört auf den anderen, rollt von mir und beginnt, knallrot im Gesicht, die Scherben einzusammeln.
Lass das!
Frank nimmt ihm das Gesammelte aus der Hand, streckt den Zeigefinger samt Arm in Richtung Tür. Auf Wiedersehen.
Schön wäre es, denke ich.