Annalisa Hartmann - Liebste Alice!
Liebste Alice!
Das Wort Glitzermensch ist mir heute eingefallen für die Menschen, die machen, dass ich stricken möchte, weil ich beim Stricken Telemann hören und träumen kann, träumen, im Geist ein wenig tanzen. Die Menschen, die mir guttun. Die Menschen, die mir als Allererstes einfallen, wenn ich mir überlege, worum es mir eigentlich geht. Natürlich gehörst du ganz ganz fest zu diesen Menschen! Und mein übernächstes Buch, das mit jedem Tag wächst, heißt vielleicht Glitzermensch.
Ich stricke nicht in Zeit, sondern in Tränen.
Tränen von Mussorgsky, eine nach der anderen. Fließt, streichelt. Ich komme mir wieder mütterlicher vor und freue ich mich, weil ich bald deine kalte Nasenspitze wärmen will.
Ich frage mich, wie lange meine eigenen Tränen nun schon eingefroren sind.
Niemand hat das Recht, mir zu sagen, es komme nicht gut mit meinem Leben. Solange ich hier sitze und stricke, solange ich andere wärmen will, solange ich Gutes gebe, das Gute, das ich eben kann, soll mir einfach niemand so etwas sagen! (Nachricht an Serafina)
Vor meiner nächsten Therapiestunde schaue ich in den Spiegel und der Mensch, den ich darin sehe, sieht nicht mehr krank aus.
Wie geht es Ihnen?, wird meine Therapeutin fragen. Ich bin wieder gesund, könnte ich sagen, und fragen, ob ich dennoch weiter in die Therapie kommen könne.
Warum?, würde sie fragen.
Weil ich gerne zu Ihnen komme, würde ich sagen.
In meiner nächsten Therapiestunde fragt sie mich, wie es mir geht, und ich sage gut, bemerke aber, dass ich, wie immer, meine Hände unter die verschränkten Beine klemme, weil ich nicht weiß, was ich mit ihnen anfangen soll. Und dann sprechen wir über meine Widersprüche. Über mein lebensbejahendes Wesen, über meine Freude, darüber, dass ich den Sonntagabend und den Montag mag wie alle Tage, dass ich immer kreative Bilder im Kopf habe, immer bereits das übernächste Buch, dass ich initiativ bin, andere inspiriere und einlade, mit mir kreativ bin, gleichzeitig aber auch Angst davor habe, nicht weiterzukommen, mich nicht zu entwickeln, nicht zu wissen, wo ich stehe, für niemanden wichtig zu sein, so unbedeutend, bis ich auf einmal gar nicht mehr weiß, wozu ich überhaupt noch da bin.
Meine Therapeutin schlägt mir vor, eine Wahrnehmungsübung zu machen. Sie schaut meine Winterschuhe an und fragt mich, ob es für mich in Ordnung ist, sie auszuziehen. Ich ziehe sie aus und meine Arme kommen mir dabei sehr kurz vor. Meine Jacke fällt vom Stuhl.
Sie zieht ihre braunen Schuhe ebenfalls aus und darunter kommen rot-schwarz gestreifte Socken zum Vorschein.
Wir spüren mit unseren Fußsohlen die Verbundenheit zum Boden, auf dem wir stehen. Die Beine lassen wir locker, gehen etwas in die Knie. Wir klopfen uns ab. Klopfen mit einer Hand über die andere Hand, klopfen über unsere Unterarme, Oberarme, Schultern, Oberkörper, Beine und wechseln die Seite. Danach streifen wir etwas von unseren Armen ab und atmen dabei hörbar aus. Auch von den Beinen streifen wir etwas ab und atmen dabei hörbar aus.
Wie war das für Sie?, fragt meine Therapeutin. Ich fand es gut, dass ich gar nicht wissen musste, was ich eigentlich loslasse. Dass es gar nichts Konkretes sein musste. Und dennoch fühlt sich mein Körper nun leichter.