Beryl Bolduan - Weihnachten

Beryl Bolduan - Weihnachten


Es war wieder einmal Weihnachtszeit – meine liebste Zeit im Jahr. Ich liebte nichts so sehr wie zu schen-ken. Es machte so viel Freude zu schenken. Für mich war es wie eine Notwendigkeit. Ich schenkte deswegen nicht nur zu Weihnachten, sondern das ganz Jahr über. Ich machte meinen Verwandten Geschenke, ich machte meinen Freunden Geschenke. Ich be-schenkte Bekannte und Kollegen. Ich schenkte und schenkte – und war glücklich zu sehen, dass die Leute sich freuten und ich das Richtige getroffen hatte. Aber zu Weihnachten konnte ich mich so richtig aus-leben, austoben, verausgaben. Schenken, schenken, schenken ...
Ich klapperte sämtliche Weihnachtsmärkte der Stadt ab und schleppte Pakete und Päckchen nach Hause. Wochenlang ging das so. Am vierten Advent beschloss ich, nochmals über den schönsten Weihnachtsmarkt der Stadt am Gendarmenmarkt zu bummeln.
Ich drückte mich, mit Tüten und Paketen beladen, durch die Reihen. Plötzlich ging es nicht weiter, denn ich befand mich in einer Schlange.
„Für was stehen wir hier denn an?“, fragte ich meinen Vordermann.
„Na, kennen Sie denn nicht Frau Wolmolla?“
„Frau Wolmolla?“
„Na, die bekannte Hellseherin, die hier jedes Jahr sitzt.“
Ich konnte kaum glauben, dass ausgerechnet ich bisher nichts von dieser Dame gehört haben sollte. Neugierig geworden, wartete ich mit den anderen vor dem Wohnwagen der Hellseherin. Als ich endlich an der Reihe war, wurde mir etwas mulmig. Dennoch trat ich ein.
Der Geruch von Glühwein und Bratäpfeln umwehte meine Nase, aber es war hier im Inneren so schummerig, dass ich erst nichts deutlich erkennen konnte. Plötzlich tauchte ein blondgelockter Knabe an mei-ner Seite auf, lächelte mich an, nahm mich bei der Hand und führte mich zu einem Tischchen, an dem ein kleines hutzliges Mütterchen mit einer enormen Nase im Gesicht saß. Sie fragte sofort: „Kugel oder Karten?“
„Äh, Kugel bitte!“, antwortete ich leicht irritiert.
Ich stellte meine Geschenke ab und setzte mich ihr gegenüber auf einen Hocker. Daraufhin stellte sie eine riesengroße rote Christbaumkugel auf den Tisch.
„Biste bereit, die Wahrheit über dich zu erfahren und kannste se denn ooch ertragen?“, berlinerte sie mich an. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort, gab dem Knaben ein Zeichen, der im hinteren Teil des Wagens verschwand.
Frau Wolmolla zog kräftig an einer Pfeife und blies mir den Rauch direkt ins Gesicht, sodass ich noch weniger sah und husten musste. Der Blondschopf stand plötzlich wieder neben mir und legte mir etwas Warmes, Haariges, Lebendiges auf den Schoß, das sich wie ein zotteliges Hündchen anfühlte. Ich er-schrak, aber Frau Wolmolla meinte: „Streichel ihn, sonst würd’s nüscht mit deiner Zukunft.“ Also streichelte ich.
Die Alte legte die Hände auf die Christbaumkugel, rieb daran und schaute gebannt darauf. Nach einer Weile meinte sie: „Irgendwat stümmt nich, allet is so verschwommen, so verworren. Ick bekomm keen klaret Büld von deinem Leben. Dit is sehr merkwürdig, als wärst du nüsch der, der du zu sein glaubst.“
Nervös rutschte ich auf dem Stuhl hin und her und streichelte das Hündchen. Frau Wolmolla rieb weiter an der Kugel und murmelte vor sich hin. Mir wurde das alles zu unheimlich und ich überlegte zu gehen.
„Ick weeß, watte denkst“, sagte sie, „aber bleib noch etwas, es würd dir jut tun.“
Erschrocken darüber, dass sie meine Gedanken lesen konnte, blieb ich sitzen. Sie rieb wieder an der Kugel, drehte sie, murmelte weiter vor sich hin. Dann stieß sie mit einem Mal einen Freudenschrei aus. Ich zuckte zusammen.
„Haha! Jetzte seh ick es janz klar. Ick weeß, wer du eijentlich bist. Aber meen Freundchen, hast de es noch selber nüsch jemerkt? Pass mal uff, ick kann dir helfen.“
Ich wusste zwar nicht, was ich von dem ganzen Hokuspokus halten sollte, aber ich dachte mir ‚Schaden wird es schon nicht‘ und war ganz Ohr.
„Um dein wahret Ick zu erkennen, musst du die Oogen schließen (was ich tat), nun an wat Schönet denken (schenken, schenken) und deinen Bauch frei machen.“
„Was?“ Ich riss die Augen wieder auf. Langsam wur-de mir das doch zu bunt, ich wollte schließlich noch meine Geschenke einpacken.
„Ja, ick muss dabei deinen Bauchnabel sehen.“
Auf Drängen der Alten entblößte ich meinen Bauch-nabel, schloss wieder die Augen, streichelte den Hund  und dachte an Weihnachten.
Nach einer Weile meinte sie: „So, dit wars.“
Froh darüber, dass der Spuk vorbei war, griff ich in eine meiner Tüten, gab der Wahrsagerin ein Ge-schenk und verschwand schnell zum Hinterausgang.
Als ich auf die Straße trat, bemerkte ich, dass sich meine sämtlichen Geschenke nun in einem riesengroßen Sack befanden, den ich über der Schulter trug. Außerdem war mir ein langer, schneeweißer Bart gewachsen. Meine Kleider waren nun aus samt-weichem, knallrotem Stoff. Um meinen dicken Bauch trug ich einen schwarzen, breiten Gürtel. Während ich noch staunte und mich betrachtete, kamen unzählige Kinder angelaufen und riefen: „Der Weihnachtsmann, kommt schnell, der wirkliche Weihnachtsmann ist hier.“
Ich begriff endlich und fing an zu lachen. „HOHOHO. HOHOHO.“ Mir fiel es sehr leicht, meine wahre Bestimmung auszuleben, und nun kann ich noch mehr schenken, schenken, schenken, schenken, schenken ...