Brücken bauen braucht Offenheit - Bedeutende pädagogische und politische Einleitung von Herausgeber Olaf Bröcker im 'Brückenbau-Projektbuch Jugendliche erleben den Nationalsozialismus in Vechta'
Brücken bauen braucht Offenheit
Herausgeber Olaf Bröcker verdeutlich pädagogische und politische Grundzüge in der Einleitung des Brückenbau-Projektsbuch 'Jugenliche erleben Nationalsozialismus in Vechta'
Es war für viele ein ganz schön mulmiges Gefühl! Bei der Ankunft in der Gedenkstätte Ravensbrück erfuhren die Jugendlichen, dass sie in den ehemaligen Räumen der KZ-Aufseherinnen übernachten sollten; in diesen Gebäuden ist die Jugendherberge eingerichtet.
Einige Wochen vorher: Im Rahmen eines kleinen Rollenspiels sollte die Gruppe für die NS-Volksfürsorge sammeln. Dafür bekamen die Schülerinnen und Schüler Sammeldosen in die Hand gedrückt, auf denen ein großes Hakenkreuz prangte.
Das Lesen von Geschichtsbüchern, die Erarbeitung von Fakten und Zusammenhängen im Geschichtsunterricht kann ein Bild im Kopf entstehen lassen. Das Nachleben, Nachspielen der Zeit kann dann eine Brücke bauen zu den Menschen. Es zwingt dazu, sich mit den Lebensbedingungen auseinanderzusetzen, die Entscheidungen der damaligen Menschen zu treffen. Im Spiel, sicher! Aber die Übernahme einer Rolle in einem solchen Spiel führt zu Identifikationen; die Jugendlichen haben sie in ihren Reflexionen über das Projekt formuliert.
Jede Schülerin und jeder Schüler übernahm dabei die Rolle einer oder eines Jugendlichen zur Zeit des Nationalsozialismus, im Rahmen einer fiktiven Gymnasialklasse. Die Rollen waren angelegt auf mögliche Jugendliche der damaligen Zeit am Schulort; für Vechta hieß das: Betonung der Religion, kaum sozialdemokratische, dafür aber viele Bauernfamilien. In allen Rollenbeschreibungen lag Konfliktpotenzial, politisch, familiär, im Rahmen der Klassengemeinschaft, wie in jedem Leben halt, aber an keiner Stelle war ein bestimmter Lebensweg angelegt. „Nicht alle werden überleben, aber wer sterben wird, wissen wir noch nicht!“ Dieser Satz wurde der Gruppe zu Beginn des Projekts mitgegeben.
Die Notwendigkeit, eine solche Rolle auszugestalten, mit den damaligen Gegebenheiten und Ereignissen umzugehen, schneidet quer durch die Täter-Opfer-Schematik, die uns Politik und Medien so gerne vorgeben, die so bequem ist, die ein eigenes gedankliches Verorten in eine Gesellschaft, in der die Entscheidungen eben nicht frei sind, nicht erfordert. Die nahezu zwangsläufig erfolgende Identifikation mit der Rolle macht jedoch ein Denken in oberflächlichen Strukturen unmöglich. In Zeiten, in denen der Geschichtsunterricht teilweise radikal gekürzt wird, das Fach sogar in einem Sumpf namens „Gemeinschaftskunde“ unterzugehen droht, ist das umso wertvoller. Dass das Projekt parallel zum Erstarken rechter Kräfte, ja der erneuten Hoffähigkeit rechter Parolen in unserer Gesellschaft lief, war Zufall; es macht das Gehen auf den Spuren der Menschen, die das schon einmal erlebt haben, nur wichtiger. „Ihr habt die Wahl – macht was draus!“, mahnte die Zeitzeugin Anita Krüger die Jugendlichen, ihre Freiheiten aktiv zu nutzen.
Wer eine Brücke bauen will, verlässt den sicheren Boden und macht Schritte ins Ungewisse. Das erfordert Offenheit. Für ein Projekt, das Brücken bauen will, ist diese Offenheit in vielen Formen und Facetten notwendig. Zuallererst betrifft das die beteiligten Schülerinnen und Schüler. Um die Rolle weiterzuleben, mussten die Jugendlichen viel von sich preisgeben; die Texte wurden in besonderer Weise persönlich. Den Zwang zu dieser Art von Offenheit kann man durch pädagogische Maßnahmen abfedern. So wurde niemand dazu gezwungen, den entstandenen Text in der Gruppe vorzulesen; auch galt der Grundsatz, dass die Texte zwar beim Lehrer abgegeben, von diesem aber nicht nachher gelesen, „verbessert“ oder gar zensiert werden. Ganz aufheben kann man diesen Zwang dennoch nicht. Und nur die Offenheit der Jugendlichen, sich mit der jeweiligen Rolle auseinanderzusetzen und sich dabei auch persönlich einzubringen, macht ein Ergebnis wie dieses Buch möglich.
Besonders gut zu erkennen war dies in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Vorher war kaum abzuschätzen, wie entscheidend der mehrtägige Aufenthalt dort für den Erfolg des Projekts war. Die Jugendlichen haben die in der Ausstellung vorgefundenen Fakten selbstständig in ihre Rolle integriert, haben dabei selbst festgelegt, wer aus der fiktiven Schulklasse wohl in Ravensbrück bzw. im angrenzenden Jugendlager Uckermark landen würde und wie es ihnen dort ergangen wäre. Die von ihnen erdachten Vorträge und Rollenspiele bildeten eine Sternstunde der Projektarbeit. Ermöglicht wurde das unter anderem durch das Konzept der Gedenkstätte, die den Weg zurück zu einer textlastigen Ausstellung gefunden hat. Dabei wurden die Erlebnisse hunderter Überlebender verarbeitet, die der Leiter der pädagogischen Dienste, der unser Begleiter über das Gelände war, zu einem großen Teil persönlich kennen gelernt hatte, wodurch er die bloßen Worte beleben konnte. Seine Offenheit und die seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war es, die das Erlebnis Gedenkstätte Ravensbrück ermöglichte: Er folgte den Schülerinnen und Schülern, wohin sie im Gelände wollten, unterstützte ihre Arbeit, ohne sie zu lenken, und vertraute auf die selbstständige Verantwortung der Jugendlichen für das Gelernte. Und die Gruppe honorierte das Vertrauen.
Projekte dieser Art sind außerdem nur möglich, wenn sich Schule offen zeigt. In einer Zeit, in der Schule an Abiturquoten und -durchschnitten, an Bildungsstandards und Zentralabiturzwängen gemessen wird, ist nur wenig Raum für offenes Lernen, und Schulen müssen sich die wenigen verbliebenen Möglichkeiten gut einteilen. Eine dieser Chancen bietet in Niedersachsen das Seminarfach, in dem die Schülerinnen und Schüler wissenschaftliches Arbeiten lernen sollen. Man kann dieses Seminarfach an andere Fächer oder auch an Leistungskurse binden oder die Arbeit auf vorwissenschaftliche Theorie beschränken. Man kann aber auch die Lehrerinnen und Lehrer bitten, sich interessante und wichtige Themen zu suchen, kann ihnen vertrauen, dass sie die für ein Unterrichtsfach notwendigen Formalia eigenverantwortlich einhalten, und kann die Schülerinnen und Schüler dann frei aus den Angeboten wählen lassen. Auf diese Weise schafft man sich Freiräume für offeneres Arbeiten und eben auch für Projekte wie das vorliegende. Und man bekommt üblicherweise eine Gruppe motivierter und interessierter Jugendlicher, die das Projekt mitgestalten wollen und können. Eine Gruppe wie die, deren Texte Sie in der Hand halten, mit ihrem besonderen Engagement und dem unglaublich hohen Grad an Reflexionsvermögen kann man zwar nicht garantieren, aber sie wird so zumindest möglich!
Aus den Texten der Gruppe wurde ein Buch. Es ist das inzwischen siebte Buch, das der Geest-Verlag und Schülerinnen und Schüler des Gymnasium Antonianum Vechta gemeinsam herausgeben. Die schon mehrfach angesprochene Offenheit bringt vor allem der Verlag mit; viele Schulen in ganz Deutschland, die mit dem Geest-Verlag bereits Projekte durchgeführt haben, können das bestätigen. Ja, diese Offenheit ist Grundlage jeder Zusammenarbeit des Verlags mit Schulen. Sie lautet: Kinder und Jugendliche haben etwas Wichtiges mitzuteilen! Wenn man ihnen also die Möglichkeit gibt, dieses Wichtige aufzuschreiben, und es dann veröffentlicht, bereichert man die Gesellschaft. Kein „Dafür bist du noch zu klein!“, kein „Die können ja noch nicht einmal richtig die Kommas setzen!“, erst recht kein „Da müssen wir noch einmal dran arbeiten! Gib mal her …!“! Das Ernstnehmen der Jugendlichen und ihrer Texte ist die Basis der Arbeit mit ihnen. Und dann lernen nicht nur die Jugendlichen, Brücken zu bauen, dann können wir alle über diese Brücken zu den Jugendlichen gehen und von ihnen lernen.
Man darf nicht zu viel erwarten. Es bleibt Schule. Es bleibt benoteter Unterricht. Es ist nur ein Fach unter vielen, und die Schülerinnen und Schüler gehen unterschiedlich aus dem Kurs heraus, wie sie unterschiedlich in den Kurs hineingegangen sind. Aber für einige hat es etwas verändert. „Als wir Ravensbrück wieder verließen, war ich ein anderer Mensch als zum Zeitpunkt der Ankunft. Man hatte mir die Augen geöffnet. Der theoretische, langweilige Schleier der Schulbank war verflogen. (…) Von da an wollte ich zeigen, dass diese reale Geschichte nicht wiederholt werden darf, dass jegliches rechtsradikales Gedankengut sich für diese reale Geschichte ausspricht. Dass Menschen sich informieren müssen, um zu verstehen, warum es nicht wieder passieren darf, und um zu lernen, wie man schon kleine Anzeichen erkennt und unterbindet.“