Cornelia Koepsell . Ausschnitt aus 'Die Unbezähmbaren'

„Gutes altes Klepper-Material“, sagte der Vater stolz, als er das Zelt probeweise im Wald aufbaute. Es ging auf-wärts. Papa hatte etwas gekauft, was nicht dem unmit-telbaren Überleben diente. Sommerferien. Die Familie – Mutti, Papa, Paul und Julia – fuhr an die nur zwanzig Ki-lometer entfernte Ostsee.
Paul lief am Strand entlang und zählte die mit Sand panierten Quallen, ans Ufer gespült, um zu verenden. Weißer Glibber, rund und glatt wie Wackelpudding. Eine darunter, rot, mit violetten Fäden im Inneren.
„Ein Flüchtling“, sagte Paul. „So wie wir.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte Julia.
„Sie sieht anders aus. Bunt. Und sie ist dünner, weil sie nicht genug zu essen bekommen hat.“
„Wir müssen sie retten“, erklärte Julia.
Paul nahm das glitschige, mit Sand vermischte Gewebe in seine Hand. Sie wateten in die Ostsee. Das Wasser reichte ihnen bis an die Brust. Paul öffnete die Hand und setzte die Flüchtlingsqualle aus.
„Mach’s gut“, rief Julia. „Geh zu deinen Leuten. Viel-leicht findest du in die Heimat zurück. Im Wasser gibt es keine Grenzen.“
Die Geschwister glaubten daran. Sie waren noch klein. Dann liefen sie zu den Eltern zurück.
Papa saß vor dem Zelt und las „Die Abenteuer der Fanny Hill“.
Julia erkannte den Umschlag wieder. Sonst lag das Buch zwischen seinen Socken.
Das war merkwürdig, denn die Eltern besaßen Regale, zusammengebaut aus Backsteinen und Brettern. Dort standen zehn Bücher – genau so viele wie Julia Finger besaß. Bücher über verlorene Heimaten, Pommern und Masuren, die Bibel, ein Gesangbuch und eins über Tex-tilmanufakturen. Daneben viel freier Platz. Außer dem Alten und Neuen Testament waren sie in dieser furchtba-ren altdeutschen Schrift gedruckt. Aber egal. Julia las das Zeug sowieso nicht. In der Leihbücherei gab es Fury und Tom Sawyer, Nesthäkchen, Winnetou I und Winnetou II.

Papas Vater, der sagenumwobene Opa aus Guben an der Neiße, von dem es hieß, dass pechschwarze Haare aus seinen Ohren wuchsen, hatte eine Textilmanufaktur be-sessen.
„Alles perdu“, sagte Papa.
Heute hieß das Gebiet „Sowjetische Besatzungszone“ oder „Ostzone“. Papa konnte und wollte sich nicht überwinden „Deutsche Demokratische Republik“ zu sagen.
Mutti kochte Kartoffeln auf dem Propangaskocher. Sie hatten einen halben Sack mitgenommen. Paul musste ihn tragen, weil er ein Junge war und groß und stark werden sollte.
„Dass ich nicht lache“, sagte Julia.
Zum Glück hatte er es nicht gehört. Aber Mutti kicherte und Papa brummte: „Freches Gör.“
Im Nachbarzelt wohnte eine Familie mit drei Kindern. Sie waren okay. Nie sagten sie zu ihnen „Rucksackdeutsche“ oder „Rüber gemacht“.
Alle fünf Kinder spielten zusammen, jagten über den Strand, bauten Burgen, Schlösser oder gruben Kanäle.
Auch die andere Familie entbehrte etwas. Dem Mann fehlte das rechte Bein. Das aus Fleisch und Blut. Statt-dessen besaß er ein Holzbein. Wenn er zum Baden in die Ostsee ging, schnallte er es ab. Julia schaute zu. Einmal bat er sie, auf sein am Strand liegendes Holzbein achtzu-geben, solange er im Wasser sei.
Noch nie war ihr eine solch verantwortungsvolle Aufgabe übertragen worden. Eine Möwe lief vorbei und Julia vertrieb sie.
Im Wasser bewegte sich der Onkel anders als sonst, fröh-lich und frei, wie wenn er noch klein wäre. Er schwamm weit hinaus, bis sein Kopf in den Wellen verschwand.
„An ihm ist ein Fisch verloren gegangen“, sagte seine Frau.
Die mochte Julia nicht. Allein die Vogelnest-Frisur. Völlig daneben. Auch Mutti war dieser Meinung. Es gab doch Dauerwellen.
Oft stand die Frau ängstlich neben Julia am Strand und suchte in den Wellen nach dem Kopf ihres Mannes.
„Komm zurück!“, schrie sie.
Einmal, als der Mann aus dem Wasser hinkte, brachte Julia ihm sein Holzbein und fragte: „Wo ist dein richtiges Bein begraben?“
Seine Frau umkrallte Julias Nacken, so fest, die blauen Flecken waren noch lange sichtbar. „So was fragt man nicht.“ Ihre Stimme klang wie die der Hexe, die den Hänsel mästet, um ihn zu schlachten.
„Lass doch“, sagte der Mann. „Sie ist ein Kind. Woher soll sie es wissen?“
Später traf Julia ihn allein und er erzählte es ihr.
„Mein Bein ist in Russland begraben, am Ufer der Wolga, einem großen, sehr breiten Fluss. Dort liegt es zusammen mit anderen Armen und Beinen.“
„Wieso mit anderen?“, fragte Julia.
„Damit es nicht so alleine ist“, sagte der Mann.
„Außerdem“, erklärte er weiter „habe ich wie alle Männer ein drittes Bein.“
„Wo?“, fragte Julia.
„Hier“, sagte der Mann und deutete auf seinen Schoß. „Willst du es sehen?“
Julia antwortete nicht. Nein – sie wollte es nicht sehen. Wozu denn? So toll war das nicht. Auch Paul hatte so ein Mini-Bein. Einmal hatten sie damit gespielt, es mit einer Mullbinde eingewickelt. Julia wollte Krankenschwester werden. Dann kam Mutti und regte sich furchtbar auf. Ihre Stimme überschlug sich. Julia wusste nicht mehr, was sie gesagt hatte, ihre Ohren hatten sich zugeklappt, außer immer wieder „Pfui“ und „Wie könnt ihr nur?“.
Seitdem war ihr das kleine Paul-Bein egal. Sie verband jetzt lieber seine Hand oder den Fuß. Manchmal sah sie ihm zu, wie er im Stehen pinkelte mithilfe des Pfui-Dings. Er sagte, das sei ganz was Tolles. Typisch Angeber.
Ihr schwante, es könnte schlimm sein, sich für das dritte Bein eines erwachsenen Mannes zu interessieren. Auch wenn er ein Krüppel war und somit ein armer Kerl. Das hatte Papa ihnen abends im Zelt erklärt. Also lief sie davon.
Am nächsten Tag bewachte sie wieder das Holzbein, als der Mann schwimmen ging. Anschließend legte er ihr die nasse Hand auf den Kopf und sagte:
„Du bist eine gute Deern.“
So etwas Schönes erlebte Julia nicht jeden Tag. Endlich war sie eine Deern, eine, die dazugehörte, obwohl die Eltern von weit herkamen, nie wirklich anerkannt wurden trotz aller Mühe, die sie sich gaben.
„Das wenige, das uns geblieben ist, frisst uns das dahergelaufene Pack aus dem Osten weg.“
Solche Sätze hatte Mutti sich beim Schlangestehen anhören müssen und war weinend nach Hause gelaufen.
Jetzt war Julia eine Deern und keine Dahergelaufene mehr. Deshalb erwähnte der Mann sein drittes Bein nicht. So etwas war nichts für eine Deern. Da war sich Julia sicher.

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