Die ersten Kapitel des SchülerInnenromans des Brückenprojekts 'Das Leben von Jugendlichen Nationalsozialismus in Vechta' stehen

Feriggestellt sind nun die ersten Kapitel des Buches, dass 20 SchülerInnen des Gymnasiums Antonianum in den letzten zwei Jahren schreiben. Jeder von ihnen übernahm eine Rolle von 15/16jährigen SchülerInnen im Nationalsozialismus in vechta und durchlebte die Jahre.

Hioer ein erster Ausschnitt.

 

Kapitel 1

Sich anzupassen
ist des Schülers Pflicht

In der Untersekunda geht es wie jeden Tag vor Erscheinen des Lehrers nicht besonders gesittet zu. Stimmen schwirren durch den Raum, necken sich, schlagen sich. Andere Schüler hocken noch müde in ihrer Bankreihe. Jemand versucht eifrigst, die Tafel mit den Ergebnissen des Matheunterrichts vom gestrigen Tag zu säubern. Der Lärm bricht abrupt in dem Moment ab, als die Tür aufgerissen wird und Herr Keuner in den Klassenraum einmarschiert.
Die Schüler und Schülerinnen eilen in ihre Bankreihen und stellen sich kerzengerade hin. Zwar kennt die Klasse Herrn Keuner, aber eigentlich hat er jetzt am Morgen noch keinen Unterricht bei ihnen.
Auch Ingrid hat sich in ihre Bankreihe geflüchtet und spürt, dass heute irgendetwas anders ist. Ja, sie spürt die Veränderung so stark, dass sich auf ihrem Arm eine Gänsehaut bildet.
„So geht das nicht!“, bellt es auf einmal von vorne vom Pult durch den Raum. „Ab heute weht hier ein anderer Wind. Ich bin ab heute euer Klassenlehrer …“
Helga glaubt ihren Ohren nicht zu trauen. Ihr Vater Klassenlehrer in ihrer Klasse. Nicht nur daheim ständig seine befehlende Stimme, nein jetzt auch noch in der Schule. Keinerlei Freiraum mehr …
„Ich werde jetzt noch einmal die Klasse verlassen, dann noch einmal durch die Tür diesen Raum betreten. Ich erwarte von euch den deutschen Gruß bei meinem Eintreten und die Meldung der Klassensprecherin, wie viele Schüler heute in der Klasse sind, wer krank ist. Erst danach ordne ich an, dass man sich hinsetzen kann. Ich hoffe, ihr habt mich verstanden.“
‚Das wird nicht gut gehen‘, fühlt Helga. Sie wird den Vater nicht auch noch beim Lernen in der Klasse ertragen. Was werden die Klassenkameraden von ihr denken? Sie weiß doch, was für ein Mensch ihr Vater ist.'
In diesem Moment fällt die Klassentür hinter Herrn Keuner, der auf den Flur hinaustritt, ins Schloss. In der Klasse bleibt eine Stille der Angst zurück. Niemand sagt etwas. Alle blicken irritiert irgendwohin, nur nicht den Nachbarn anschauen, könnte der doch das Flackern der Angst in den Augen bemerken. Fast jeder der immer noch Stehenden sackt in sich zusammen. Kein Laut ist in diesen wenigen Momenten zu hören. Gerade haben sich die ersten SchülerInnen gesammelt, man hört, wie einige von ihnen die Luft ansaugen, um etwas zu sagen, da wird die Tür aufgerissen. Renate scheint es, als würde sich ein Loch auftun, das geradewegs den Weg in die Hölle freigebe. Der Schreck fährt ihr direkt in den Magen.
„Heil Hitler!“, schreit die Stimme aus dem Höllenschlund. Die Körper der Schüler und Schülerinnen straffen sich, die rechten Arme fahren in die Höhe, erbieten dem Lehrer den Führergruß und brüllen beinahe ‚Heil Hitler‘. Noch nie geübt, aber es klappt automatisch. Inge, die Klassensprecherin, tritt vor und meldet: „2o Schüler und Schülerinnen angetreten zum Lernen, niemand ist krank.“