Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation - der dreißigste Tag - die Abschlussgeschichte (Literatur in schwierigen Zeiten)

Achlussgeschichte

Der dreißigste Tag war angebrochen. Noch vor dem Frühstück erschien die Hausärztin bei unserem Kind, das so lange schon im Haus hatte bleiben müssen. Es war sehr gespannt, was sie sagen würde. Die aber meinte nur knapp: "Ab jetzt geht es raus!" Da jubelte das Kind, huschte zur Terrassentür hinaus und drehte eine Runde auf dem Rasen. Die Eltern und die Ärztin zwinkerten sich nur zu.

Um die Mittagszeit sagten die Eltern, dass es am späten Nachmittag eine Überraschung gäbe. Doch bis dahin war es noch lange hin. Die Stunden zogen sich. Als es drei Uhr war, erinnerte sich das Kind, dass um diese Uhrzeit immer jemand kam um ihm eine Geschichte zu erzählen. Kurz vor fünf meinten die Eltern, dass es Zeit wäre abzufahren. Abfahren? Gut! Das Kind stieg ins Auto. Und los ging es. Nach einer halben Stunden kamen sie auf einem Parkplatz an, der ringsum von Büschen umgeben war. Es standen bereits etliche Autos da. Einige kamen dem Kind irgendwie bekannt vor.

Als die drei den Parkplatz verlassen hatten, blickten sie auf eine große Wiese am Fluss. Dort waren Tische und Bänke aufgestellt. Von einem großen Grill stieg Rauch auf. Das Kind ging näher an die Tische heran. Sie waren wunderschön gedeckt mit großen Tellern, bunten Gläsern und Blumen. Auf einmal ertönte ein Indianergeheul. Hinter allen Büschen und Bäumen stürmten die Freunde des Kindes hervor. Das Kind brachte keinen Ton hervor. Jeder klopfte ihm auf die Schulter oder umarmte oder stupste es an. Nach dieser kräftigen Begrüßung kamen auch noch die anderen Eltern dazu.

Der Papa von unserem Kind begrüßte alle und meinte, dass sich jeder nach den vielen, anstrengenden Tagen das Essen redlich verdient hätte. Das war das Zeichen. Die Kinder schnappten sich ihre Teller und stellten sich am Grill und am Büffet an. Danach hörte man kaum jemanden reden; dafür aber das Klappern des Bestecks und auch so manche Mundgeräusche. Das gemeinsame Essen zog sich. Als alle satt waren und es bereits dämmerte, trommelte die Mama unseres Kindes alle anderen Kinder zusammen. Jedes bekam ein Papierschiffchen, auf dem der Name und der Tag stand, an dem es seine Geschichte erzählt hatte. Dann ging sie mit den Kindern zum Steg am Fluss. Jeder setzte nun der Reihe nach sein Papierschiffchen auf das Wasser und verabschiedete es – der Rabi, die Isa, die Pauline, der Peter, der Klaus und wie sie alle hießen.

Nachdem auch das letzte Schiffchen aus den Augen verschwunden war, gingen alle zum Lagerfeuer, das die Väter in der Zwischenzeit angezündet hatten und setzten sich im Kreis herum. Alle waren still. Aber nach ein Weile ergriff Pauline das Wort: „Die Papierschiffchen fahren den Fluss hinunter. Und wohin sind die Geschichten?“

Keiner antwortete. Da stand unser Kind auf, deutete mit dem rechten Zeigefinger an seinen Kopf - und führte die linke Hand an sein Herz.