Dieter Krenz - Suchen nach den leisen Worten
Suchen nach den leisen Wörtern
Auf der Suche nach den leisen Wörtern, den freundlichen, den friedlichen, kommen sie mir schon ohne Aufforderung leichtfüßig entgegen auf der großen, breiten Wortstraße, tänzeln um mich herum. Eines nach dem anderen nimmt mich an der Hand und begleitet mich in den Tag.
Froh gestimmt schreite ich voran bis eines der Wörter – bislang zart, leise – plötzlich so laut wird, dass ich abrupt meine Hände schützend an die Ohren lege.
Es ist das Wort gesprächsbereit, das als erstes zu dröhnen beginnt. Aber dabei bleibt es nicht lange. Auch die Wörter Diplomatie und selbst Frieden katapultieren sich in ungeahnte Lautstärken. Die drei stapfen, stampfen weiter auf der Wortstraße, so dass die anderen Wörter ihnen ausweichen müssen.
Ich versuche von der breiten Straße in eine Gasse abzubiegen, wo dunkle Häuserfronten Schatten und Ruhe versprechen.
Etliche meiner Wortbegleiter kommen mit. Auch sie atmen durch, als wir vor einem schönen, alten Haus stehen bleiben.
Aber unsere Ruhe währt nicht lange. Aus einem der offenen Fenster über uns brüllen die Wörter Ruhe, leise und gleich danach still, und die Häuserfronten vervielfältigen sie zu einem schrillen Konzert.
Leise, ein Wort, das von Geburt an immer zart und zärtlich erschien, aber nicht schwächlich oder gar schwach, jetzt zeigt es sich aggressiv, bedrohlich.
Ich drücke mich mit den wenigen treuen Wörtern unter das Vordach eines Hauseinganges und warte ab, bis dieses Staccato aus leise, Ruhe, still verebben möge. Doch es hält sich erstaunlich lange. Meine letzten Wortbegleiter beginnen zu murren - dann platzt es aus ihnen heraus: Du? - Freund, Freund, Freund?, lärmen sie.
Ich halte mir die Ohren zu und versinke im Hauseingang, während sie lauthals schreiend davonlaufen.
Ich bin allein, allein nur mit dem Wort allein in meinem Kopf. Dort kann es nicht laut werden – oder doch?
In mir keimt ein Verdacht; es gibt keine leisen Wörter, keine freundlichen, keine friedlichen.
Vielleicht gibt es ja nur Wörter, nur Wörter?
Ich bitte Euch die Wörter zu behüten vor dem Lärm, denn die Wörter haben das nicht verdient, wir haben das nicht verdient.
Aber das Schlimmste ist nicht einmal der Lautstärke, sondern die Betäubung der Wörter, damit sie leise bleiben, wenn man sie mit Gift auf die Reise schickt - zu unseren Herzen.