Dirk Röse - Gesellig zum Skifahren (Die Corona-Pandemie ist die erste Kollektiverfahrung unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten)
Gesellig zum Skifahren
Die Corona-Pandemie ist die erste Kollektiverfahrung unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten
„Et kütt wie et kütt. Et hätt noch emmer joot jejange.“ Vielleicht war es in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich so einfach, wie es das Rheinische Grundgesetz besagt. Wir hatten uns fest daran gewöhnt, dass Dinge zwar schiefgehen können, aber dass sie unsere heile Welt nie ernsthaft in Gefahr bringen würden. Im Grunde wussten wir ja, dass wir sicher sind. Stolpern, Fallen und Scheitern blieben allgegenwärtig, aber die Zerbrechlichkeit des Lebens war stets eine individuelle Erfahrung oder das Erlebnis einer mehr oder weniger scharf umrissenen Teilgesellschaft. Sicherheit war die kollektive Erfahrung der letzten Dekaden.
Andere oder sogar gegenläufige Kollektiverfahrungen liegen für uns als Gemeinschaft der in Deutschland Lebenden weit zurück. 75 Jahre ist es her, dass ein heruntergekommenes Volk in einer Trümmerlandschaft kapitulierte. 30 Jahre ist es her, dass ein aufbegehrendes Volk der heruntergewirtschafteten Deutschen Demokratischen Republik das Ende bescherte. Vielleicht müssen wir die Ereignisse vom 11. September 2001 dazu zählen, als Terror sich selbst skalierte. Das waren tatsächlich die letzten Erfahrungen unserer Gesellschaft, von denen wir alle betroffen waren. Wir-sind-Papst, Sommermärchen und Finanzkrise kamen später und blieben doch eher partiell.
Es stellt sich nun die Frage, was das „Wir“ in diesen Zusammenhängen bedeutet. Im Jahr 1945 war ich noch nicht auf der Welt. Inwieweit das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg dennoch zum kollektiven Erbe in der Seele der heutigen Generationen zählen, wird von Tiefenpsychologen noch debattiert. An den 9. November 1989 kann ich mich hingegen sehr gut erinnern. Doch das kollektive Erlebnis eines tiefgreifenden Systemwechsels blieb den Bürgerinnen und Bürgern der DDR vorbehalten. Auch die Anschläge auf das World Trade Center wirken nach, aber eher als Schock denn als kollektive Terror-Erfahrung. Wir blieben vor dem Fernseher sitzen und griffen in die gemeinsame Chipstüte.
Als Nation haben wir schon lange keine Erfahrung mehr geteilt, die nicht nur Individuum oder eine Teilgesellschaft einschneidend trifft, sondern alle. Die Corona-Krise ist die erste kollektive Erfahrung seit langem und für die meisten wahrscheinlich auch die erste überhaupt. Die ganze Nation steht still. Ein ganzes Land bleibt zu Hause und hält Abstand. Deutschland trägt eine Maske. Corona ist eine Macht, die uns alle zu Verhaltensänderungen zwingt. Der Gegner rüstet weder hinter dem Eisernen Vorhang auf noch wird er durch die Ummantelung einer Nuklearwaffe gebändigt. Der gemeinsame Feind kam gesellig zum Skifahren in der Business Class von Air China nach Europa. Und jetzt stehen wir alle auf seiner Piste und springen zur Seite. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit, die Klimawandel und AfD vor Neid erblassen lässt, hat Corona unsere Gesellschaft unterwandert und durchdrungen. Die von ihm ausgehende Gefahr lauert nicht länger irgendwo im Nebel der Abgase, die Gefahr ist mein Nächster, meine Partnerin, mein Kind, mein Kollege, das Wechselgeld beim Bäcker, die gemeinsame Chipstüte.
Noch mag ich nicht daran glauben, dass die Corona-Krise uns alle und unsere geliebten Gewohnheiten dauerhaft verändert. Aber vielleicht wird uns fortan ein gewisses Misstrauen begleiten. Die Leute um mich herum in Konzert, Theater, Stadion, Kino und Restaurant konnten mir bislang gleichgültig sein. Vielleicht ist es mir in Zukunft lieber, wenn der Abstand zum Nächsten größer wird.
Die kollektive Erfahrung der Corona-Krise hat unsere Erfahrung der kollektiven Sicherheit ins Wanken gebracht. Telefon, Messenger und Video-Call sind der neue Mindestabstand, die Digitalisierung unseres Lebens ist der Profiteur des Ganzen. Was bleiben wird, ist eine gewisse Entfremdung. Wir sind nicht absolut sicher.