Dirk Röse - Wellenschlag / Ausdruck unserer Wut und Verzweiflung über den täglichen Tod im Mittelmeeer

Wellenschlag

Die Welle rollt an. Sie reckt sich, prahlt mit ihrer Wucht. Bedrohlich hoch schlägt sie lässig gegen die Bordwand. Das marode Boot erzittert, knirscht. Gischt sprüht über das Deck, auf dem wir zu Hunderten kauern. Die vor Angst geweiteten Augen, die aufgerissenen Münder, sie alle schreien dieselbe Botschaft in die brüllende Nacht hinaus: »Helft!« Der Sturm ist laut, man hört sie nicht. Doch es ist unser Sturm, und er leiht uns seine Stimme: »Helft!«
Das völlig überladene Boot, rostig und alt und nicht auf die hohe See ausgelegt, schlingert. Ich versuche Halt zu finden und kann nur versuchen, mich an meinem Nachbarn festzukrallen. Einen festen Griff hat allein die Angst. Es geht um mein Leben.
Und es ging immer um mein Leben. Ihr wisst nichts von meinem Dasein, das trostloser nicht sein konnte. Nein, wir sitzen nicht alle im selben Boot. Ich musste einfach dort weg. Dabei hatte man mich gewarnt. Die Überfahrt sei gefährlich, ein gutes Geschäft für die, die nicht einsteigen mussten, viele Schiffe seien gesunken, unzählige Menschen hätten den Tod gefunden. Ich schob die Warnungen beiseite. Es war genug Unglück über mich gekommen, nun wollte ich auf einer Welle des Glücks reiten.
Eine Woge peitscht über uns hinweg, mächtig, tyrannisch, vernichtend. Wassermassen erfassen Flüchtlinge, die nicht entfliehen können, manch einer wird gleich ins tosende Meer gerissen und für immer verschlungen.
Die nächste Welle, gigantisch, zerstörerisch, tödlich, spült meinen Nachbar über Bord. Er reißt mich mit. Ich stürze ins Meer und versinke. Panisch trete ich nach ihm, damit er loslässt, kämpfe mich frei, dränge an die Oberfläche zurück, ringe um Luft, sehe Wellen, Wellen, Wellen, aber kein Boot, kein Land, keine Erlösung.
Dann ertränkt es mich. In den wenigen Augenblicken über Wasser schnappe ich nach Luft, suche Rettung, und jede Faser meines Körpers, jeder Gedanke schreit euch zu: »Helft!«
Oh, ihr Wellen, tragt meinen Hilferuf weiter. Dann schlägt das Wasser über mir zusammen und gibt mich nicht wieder frei. Ich atme ein, meine Lunge füllt sich mit eisigem, brennendem Nass. Das ist das Ende. Oh, ihr Wellen, seid meine Stimme, tragt meinen Hilferuf an die Küste.
Meine Sinne schwinden, ich werde Teil des Meeres, bin eine Welle, sehe den Strand vor mir. Die Sonne scheint, eine wohltuende Brise weht vom Meer ins Landesinnere. Männer und Frauen lieben ihr Leben. Kinder spielen am Strand. Sie bauen Burgen, Burgen aus Sand mit Mauern gegen die Wellen, die über das Meer kommen. Eltern zeigen ihren Kindern, wie die Mauern stark werden, wie sie möglichst lange der aufkommenden Flut standhalten.
Der Wellenschlag meines Hilferufs zieht auf die Küste zu. Er grollt im Sturm, er rollt im aufklarenden Wetter, er tollt malerisch in der Flut der Gezeiten. Und wenn der Wellenschlag auf die Küste trifft, ist seine Kraft längst gebrochen, platscht er harmlos auf die kindlichen Mauern am Strand. Und versandet.

http://about.me/dirk.roese

 

 

(Herzlichen Dank an Dirk Röse)