Dora Drescher - 3 Sekunden bei mir

Dora Drescher
3 Sekunden bei mir

Ich hing am Hang und der eine Mann, das eine Seil, das mich hätte retten können, zerschnitt sich in zwei. Zerbrochen waren meine kleinen Hoffnungs-splitter erneut und übrig blieb ein Glasregen, so hässlich, so schmerzlich. Ich wünschte, ich fiel in dieses dunkle Loch. Ich erwachte öfters dort. Verschwitzt und blutig. Dort ging ich hin, wenn das Hier und Jetzt – oder war es das Dort, unerträglich wurde. Es war laut. Unglaublich laut dort, und ich liebte jede einzelne Sekunde. So laut, dass meine Stimme verschwand. So laut, dass mein Schrei nicht zu hören, nicht zu bezeugen war, ich war frei in dieser un-denklich kleinen Welt. Mit so vielen lauten Stim-men, Geräuschen stoppten meine Gedanken, stoppte ich. Ich ging nicht mehr diese runde Treppe runter. Ich verfing mich nicht mehr in einer Pfütze voller Blut, voller Träume, voller ekelhafter Hoffnung. Es war so laut, dass Ruhe herrschte, und ich wünschte, ich lebte hier. Wäre hier geboren, würde hier sterben, aber ich wusste genau, wo ich war, wenn ich die Augen aufmachte. Also tat ich das nicht. Nein. Ich blieb dort und ließ alles und alle anderen hinter mir. Schmerz, Wünsche, dieser Blick zur aufgehenden Sonne, wünschte mir jedes Mal, ihre Strahlen würden mich verbrennen. Passend, es war passend mit diesem eiskalten Feuer in mir, diese abgrundtiefe Wut. Vielleicht wäre ich dann zufrieden. Vielleicht wäre ich dann endlich frei. Peitschen klagten meine Träume. Sirenen erfüllten mein Ohr, und schon war ich zurück. Ich war wieder Nummer 346 und ich wurde aufgefordert zu gehen.

(Geschrieben währen eines Aufenthalts mit der Schreibwerkstatt in der Gedenkstätte Ravensbrück)
Veröffentlicht in Kürze im Buch
Dann denkt mal,
Denkmale!
Mama, Papa –
Danke, dass ich kein Nazi bin!
Herausgegeben von Anna Hackstedt
Friedrich Barklage, Maria Buchtijarova
Dora Drescher, Paula Frieling, Neo Götting,
Anna Hackstedt, Aleyna Köybasi, Amelie Kröger,
Madlen Kunz, Jolin Meinecke, Paulina Miersch,
Felix Nienaber, Lara L. J. Robbers,
Fenja Steinkamp, Amanda Wurm
Geest-Verlag 2024