Eine Krippengeschichte mal ganz anders - Johanna Grevemeyer
Eine Krippengeschichte mal ganz anders
Johanna Grevemeyer
Noch zehn Tage bis Weihnachten! Die meisten Vorbereitungen sind zwar getroffen, aber: ‚Einige Fenster müssten eigentlich noch geputzt werden, ein Christstollen müsste gebacken, die Apfelsinen- und Flottkringeldosen sollten wieder gefüllt werden, die täglich mehr Schwund aufweisen. Frisch schmecken sie halt am besten. Es sind ja auch immer wieder willkommene kleine Aufmerksamkeiten, mit denen man in der Adventszeit Freude bereiten kann. Einige Jahresbriefe an gute Bekannte habe ich zwar schon geschrieben, aber die vielen anderen Weihnachtsgrüße! Vielleicht rufe ich einige Verwandte einfach an. Was möchte die Familie an den Feiertagen wohl zu essen bekommen? Das haben wir auch noch nicht geklärt. Und der Tannenbaum muss noch aus dem Wald geholt werden. Hoffentlich gibt es bis dahin keinen Schnee! Und, und, und …‘
All diese Gedanken schwirren in meinem Kopf durcheinander, als ich auf dem Weg zu Anna bin, die, wie in jedem Jahr, kurz vor dem Christfest zum Adventskaffee eingeladen hat.
‚Oh, einige Autos stehen schon im Hof. Bin ich mal wieder die Letzte?‘
Als ich das Haus betrete, sind meine Gedanken verflogen. Der große Weihnachtsstern im Flur begrüßt mich mit seiner unglaublich üppigen Blütenpracht wie in jedem Jahr! Alles ist adventlich geschmückt. Mit dem Öffnen der Wohnzimmertür fällt endgültig alle Hektik von mir ab. Das Zimmer ist von Kerzenlicht erhellt. Es duftet nach frischem Tannengrün, das auf dem Tisch und überall liebevoll gestaltet die Weihnachtsdekoration unterstreicht. Anna hat es sich nicht nehmen lassen, mit ihren fast 90 Jahren den Nuss-Kronsbeerkuchen und die Obsttörtchen selbst zu backen.
Trotz vermeintlicher Zeitnot haben sich die Kränzchenfrauen riesig auf den Nachmittag gefreut. Noch einmal im alten Jahr im vertrauten Kreis beisammenzusitzen, sich noch einmal des Vergangenen zu erinnern und sich auf das Christfest, das leider auch von uns all zu sehr zu einem Geschenkefest mit zu viel überflüssigen Äußerlichkeiten degradiert wurde, einstimmen zu lassen.
Diesmal vergehen die geselligen Stunden allzu rasch, denn es hatte sich etwas schier Unglaubliches zugetragen.
Anna und ihre Schwiegertochter Elisabeth erzählen: Elisabeth und Rüdiger waren gerade zwei Jahre verheiratet, als Rüdiger einer Kuh bei der Geburt Hilfestellung leisten musste. Da schnelles Handeln nötig war, dachte er nicht daran, den Ehering vom Finger zu streifen. Als er Nase und Maul des Kälbchens vom glitschigen Schleim befreit hatte, damit es gut durchatmen konnte, und es trockenreiben wollte, sah er gerade noch mit Entsetzen, wie sein Ehering mit den schleimigen Fetzen der Wasserblase zwischen den Latten des Spaltbodens in den Güllekanal rutschte! Schlimm waren seine Selbstvorwürfe, hatte er doch seinen Verlobungsring auf ähnliche Weise bei der Landarbeit eingebüßt. Es wäre sicher einfacher gewesen, eine Stecknadel aus einem Heuhaufen zu suchen, als ein Ringlein nach dem Ausbringen der Gülle auf großen Ackerflächen wiederzufinden.
Im Laufe der Jahre wurden die Nutztiere abgeschafft und man spezialisierte sich auf Gemüse- und Obstanbau und richtete einen Hofladen ein.
Jahr für Jahr kamen viele Pferdebesitzer, um sich säckeweise Möhren für ihre Vierbeiner zu holen. So auch Hermann K. Da er gerade Besuch hatte von einem Bekannten aus Bad Zwischenahn, gab er ihm einige Beutel der knackigen süßen Wurzeln ab. Kurze Zeit darauf bekam er einen Anruf seines Kollegen. Er habe im Trog eines seiner Pferde einen Ring gefunden, vielleicht sei er ihm beim Einladen in den Kofferraum abhanden gekommen. Nein, ihnen gehöre er nicht. Rätselraten hier, Rätselraten da. Wie kommt der Ring in die Pferdekrippe?
Hermann K. ruft in Malgarten auf dem Gemüsebetrieb an. Nein, ihnen und auch keinem ihrer Mitarbeiter sei ein Ehering abhanden gekommen, und Rüdiger besitze seinen Trauring schon seit 30 Jahren nicht mehr.
Hermann K. geht der Ring mit der Inschrift ‚Elisabeth‘ nicht aus dem Sinn. Bald darauf trifft er Herrn D. aus Bad Zwischenahn, übernimmt das herrenlose Schmuckstück und fährt schnurstracks damit nach Malgarten.
Elisabeth dreht und dreht das Ringlein. Sie kann erst gar nichts sagen, es hat ihr einfach die Sprache verschlagen. Sie kann es immer noch nicht glauben. „Elisabeth 12.10.1968“, entziffert sie. Es ist wirklich und wahrhaftig Rüdigers Trauring, der vor dreißig Jahren in die Gülle gerutscht ist und beim Ausbringen auf einen Acker gelangte! Jahrzehntelang wurde darauf gepflügt, geeggt, gesät, wurden Früchte bestellt und wieder abgeerntet! Durch ein unfassbares Geschick eingewachsen in eine Möhre, von einem reinlichen Pferd als Fremdkörper verschmäht und von guten Bekannten gefunden, nun zu ihnen zurückgekehrt! Unglaublich!
Obwohl Elisabeth ihrem Mann in allen Dingen volles Vertrauen schenkt, den Ehering vertraut sie ihm nicht mehr an, den hat sie gleich ‚an die Kette gelegt‘, an ihr goldenes Kettchen, das sie nun ständig trägt!
Fasziniert und atemlos haben wir gelauscht.