Emma Lüers - Grundlos sein (aus ihrem demnächt erscheinen Band: Ein Spaltbreit Freiheit
Grundlos sein
Als Kind hätte ich die Hexen in den Wolken beschwören können. Für mich fingen die Wolken aber auch schon über Papa in den Rauchschwaden über der Eisenbahn an. Und ich dachte, dort oben flogen sie bestimmt mit ihren Besen zu Schlössern im Himmel, wo sie mit Drachen Tee trinken konnten.
Damals habe ich gerne hochgesehen. Wollte Hexenjä-ger werden, sie fangen und vermutlich wieder freilassen, so wie die Frösche um einen Teich herum, weil mich die Hexen sonst verfluchen würden. So stand ich früher oft in dem Nebel auf dem Berg, hörte das Knartschen des Schnees unter meinen kleinen Sohlen und konnte selbst nicht weiter sehen als bis zu Papas Ellenbogen. Immer habe ich versucht, ihm zu erklären, dass er bei einem solchen Wetter – es schneite wie verrückt – doch besser einen Helm tragen sollte. Ich machte mir ernsthaft Sorgen, dass einer dieser Turbo-Besen ihm „in den Wolken“ ein Ohr abfahren könnte. Bestimmt können Hexen das Ohr eines Riesen ge-brauchen, so meine Schlussfolgerung. Aber die Wollmütze war ihm doch lieber, und damals tat ich dann so, als würde ich schmollen und ließ mich weiterziehen, sodass meine kleinen Sohlen Spuren in den Schnee zogen.
Schade, dass ich den Schnee früher nie so zur Kenntnis genommen habe. Ich denke, jetzt ist er weg und kommt nie wieder. Das Getümmel neben der Bahn verschluckte das Schneegestöber für fast jeden Vormittag des Winters, in dem ich von Hexen träumte. Er war unwichtig. Ich konnte nie verstehen, warum die Hexen sich in den Wolken versteckten. Meine Hexen flogen zu Schlössern, sie mussten wunderschön sein. Ich fand mich in meinen Stiefeln und dem roten Man-tel auch ziemlich schön und ich wollte mich definitiv nicht verstecken. Also warum zeigten sie sich nicht?
Der Winter ging zu Ende. Und ich freute mich, dass ein Berg im Frühling keinen Schnee machte und der Regen den Nebel des Vormittags verschwinden ließ. Aber ich bemerkte, dass die Wolken über Papa hinauswuchsen und er den Regen von oben nicht angenehm fand. Also stand ich irgendwann ein letztes Mal auf dem Berg, ohne es zu wissen. Der Tag war durchnässt, aber klar. Doch das Einzige, was ich über Papa hin-wegfliegen sehen konnte, waren schwarze Vögel gewesen. Hoffnungsvoll redete ich mir ein, dass Hexen bei Regen nicht fliegen wollen, so wie Schmetterlinge. Vielleicht waren sie Winterschmetterlinge und übernachteten in ihren Schlössern solange es regnete. Denn auch ich entdeckte für mich, dass Regen keine so schöne Sache ist.
Als wir an diesem letzten Tag wieder in die Bahn stiegen, so wie jeden vergangenen Vormittag zuvor, saß unter dem Unterstand bei dem Infohäuschen eine hübsche junge Frau. Sie trug ein blaues, weites Kleid und feste Stiefel. Grinsend winkte sie mir mit der freien Hand zu. Ich wusste plötzlich, dass Hexen wirklich regenscheu sein mussten. Der Zug fuhr an, und gespannt freute ich mich auf den vermeintlich nächs-ten Tag und die Frau, die ich nie wieder treffen würde. Auch als es im Sommer nicht mehr regnete. Nie habe ich den Berg wieder besucht.
Ich denke, der Regen hat damals nicht nur den Schnee, sondern auch die Hexen aus meinem Kopf geschwemmt. Und ich denke, ich gehe nicht zurück, um mich zu fragen, was mit all dem passiert ist. Mit dem Schnee, dem Frühling, den Hexen. Aber ich bemerke, dass ich, wenn es dort Winter wird, gerne nach oben schaue, um nach Flocken zu suchen. Vielleicht sind die Drachen ja noch da oben?