Essay Flucht von Marie-Sophie Michel
Im deutschen Wort Flucht steckt der Fluch. Wer fliehen muss, ist verflucht. Es begab sich einmal zu einer Zeit, es begab sich zu allen Zeiten. Eiszeit, Hungerszeit, Kriegszeit. Flucht… Der Mensch ist von Anbeginn der Menschheit auf der Flucht- oder etwa auf der Suche nach dem Paradies, ins gelobte Land?
Der Hunger und die Füße treiben uns voran.
Auf dem Schulhof spielten wir Räuber und Gendi, Fangermandel, Fangsti. Laufen, fliehen, verfolgen. Es ging nicht auf Leben und Tod, es war der pure Nervenkitzel. Wer flink war, war eindeutig im Vorteil. Es war ein Spiel… Und dann gab es den Baum, an dem man aussetzen bzw. rasten durfte, an dem man nicht abgeschlagen werden durfte. Ein Baum gleichsam als Schutzzone. Wo ist heute im Ernstfall die Schutzzone? In realen Gefahrensituationen können wir selten auf Bäume klettern.
Und es begab sich…
Flucht- dieses Thema hat auch viel mit dem Weihnachtsevangelium zu tun. Maria und Joseph flohen mit dem Neugeborenen nach Ägypten, sie flohen vor den Schergen de König Herodes. Vor der Geburt des Kleinen hatten sie bei der Herbergssuche viele verschlossene Türen vorgefunden. Ein Stall wurde zum Geburtszimmer. Auch wenn diese Geschichte vielleicht nicht stimmt, ist es eine schöne Metapher.
Wir fliehen manchmal freiwillig vor der grausamen Realität z.B. in einen Hollywoodfilm- am Ende geht alles gut aus. Das wünschen wir uns.
Wer flieht, rennt der Gefahr davon, dem Krieg, dem Hunger, der Gewalt, dem Feuer. Wer flieht, lässt alles zurück und weiß nie, ob er ankommen wird. Auch wenn er mit leichtem Gepäck reist, das soll ja befreien, sagen die, die noch alles haben, trägt er die Last der Erinnerung auf den Schultern und die Sehnsucht im Herzen. Er lässt Tote zurück und Gräber. Er lässt sein ganzes Leben zurück und kommt in einem Land an, wo alles anders ist, hier bei uns die Kälte. Es braucht einen dicken Pulli, eine Fahrkarte. Das Leben schrumpft auf 2 qm, auf ein Feldbett. Keine Arbeit, keine Wohnung. Warten, warten- darauf bleiben zu dürfen.
Der Geschichtsschreiber Tacitus erwähnte lobend die Gastfreundschaft der Germanen. Gut 2000 Jahre später teilen viele Menschen am Bahnhof Essen aus, helfen.
Die Erdmasse Afrika treibt immer mehr auf Europa zu. Jedes Jahr um ein paar Zentimeter.
Warum fliehen Menschen? Hungersnot, Krieg, Naturkatastrophen. Und immer wieder auch vor einem ungerechten König, der seine Untertanen knechtet- oder umbringen lässt. Die Bibel ist nicht umsonst das Buch der Bücher. Dort lesen wir auch davon.
Fliehen, floh, geflohen.
Jedes Jahr fliegen und „fliehen“ Deutsche in den Urlaub, am liebsten zur Sonne. Flucht aus dem Alltag- in der Gewissheit – wenn ich zurückkehre steht mein Haus noch, mein Nachbar hat meine Blumen gegossen, mein Haustier gefüttert. Meine Arbeit wartet auf mich. Das ist die Luxus-Flucht. Eine Blechlawine rollt jeden Sommer auf der Autobahn.
Nun sehen wir Züge aus Menschen. Menschenzüge auf dem Weg über das Wasser. Viele gehen unter. Das ist keine Urlaubsreise. Das sind Menschen, die zwischen dem Teufel und dem Beelzebub keine Wahl geschweige eine Zukunft gesehen haben.
Sie orientieren sich an den Sternen. Ihr Stern leuchtet über Europa. Bald bricht die Nacht herein.
Ich schreibe in meinem geheizten Zimmer, an meinem Schreibtisch. So stelle ich mir einen Pfarrer vor, wenn er an seiner Predigt feilt. Am Ende muss er eine Botschaft verkünden.
Ich habe keine. Ich hoffe Tacitus behält Recht mit der Gastfreundschaft.
Deutschland hat, was Flucht betrifft, schon einige Erfahrungen hinter sich. Wie viele sind im 19. Jahrhundert nach Amerika geflohen, weil sie hier in Armut lebten. Edgar Reitz hat das in seinem vierten Heimatfilm kongenial vor Augen geführt. Wie viele Menschen sind nach dem zweiten Weltkrieg vertrieben wurden und mussten fliehen. Da kamen z.B. Evangelen ins katholisches Gebiet…sozusagen Feindesland. Viele Bauern hätten ihre Stalltür am liebsten für immer zugemacht.
Die Weisen aus dem Morgenland …so steht es geschrieben.
Bleibt zu hoffen, dass die Weisen aus dem Morgenland den Stern über Europa finden, über dem Abendland.