FRANCA LINGUA, SPENGE Unerhört einsam



Nach einem Blick auf die Uhr lasse ich das Klassenbuch Klassenbuch sein, stopfe meine Sachen in die Tasche und renne zur Bushaltestelle. Hoffentlich ist der Bus heute wie an so vielen anderen Tagen auch ein paar Minuten zu spät. Um 14 Uhr werden die Techniker mit unserem neuen Fernseher vor der Tür stehen.
Geschafft! Ich sitze im Bus und beschimpfe jeden Autofahrer, der nicht sofort sportlich startet, wenn die Ampel von Gelb auf Grün springt. Natürlich beschimpfe ich die anderen Verkehrsteilnehmer nur innerlich, schließlich bin ich Lehrerin und verstehe mich als positives Vorbild.
Pünktlich um 14 Uhr fährt der Wagen mit dem heiß ersehnten Fernseher auf den Hof. Die beiden Männer schleppen das Gerät in unser Wohnzimmer und machen sich an die Installation. Gut, dass sie mit ihrer Arbeit beschäftigt sind und nicht weiter auf mich achten.
Aufgeregt wie eine Fünfjährige vor der Bescherung laufe ich den Flur auf und ab. Obwohl es nicht zu unseren Gehältern passt, haben wir uns für den dänischen Hersteller mit den zwei großen Buchstaben entschieden, der bereits seit 1925 das Hochpreissegment bedient. Wenige Minuten später werde ich lernen, dass der Fernseher neu kodiert werden muss, wenn er zwanzig Minuten keinen Strom erhalten hat, da er als Diebesgut so begehrt ist, dass man ihn irgendwie unbrauchbar machen muss, falls er dem rechtmäßigen Besitzer abhanden-kommt oder ein Mitarbeiter behauptet, das Gerät sei bei der Lieferung vom Lkw gefallen.
Normalerweise kaufen mein Mann und ich für eine solche Summe einen guten Gebrauchtwagen. Aber dieses Gerät ver-fügt über etwas, das mich im Geschäft magisch angezogen hat. Ungeduldig habe ich den langen Monolog des Verkäufers über mich ergehen lassen. Ich will nur eins! Den aktiven Laut-sprecher! Und den Standfuß mit dem Motor, der unseren Fernseher zu einem folgsamen und zugleich lernenden Fern-seher macht. Ja, den will ich auch!
Nach einer Stunde quittiere ich den Erhalt des Objekts meiner Begierde und darf es höchstpersönlich starten. Doch das Christkind ist dieses Mal nicht zu mir gekommen! Verzweifelt schalte ich die Programme rauf und runter. Die Akteure in den Talkshows auf Kanal 13 und 27 nicht zu verstehen, beunruhigt mich nicht weiter. Nicht folgen zu können, wenn die Leute überlappend sprechen, daran bin ich seit Jahren gewöhnt. Ahnungslos lächelnd und stumm wie ein Möbelstück neben meinem Mann auszuharren, während er sich fröhlich und ausgiebig mit unseren Nachbarn unterhält, auch das kenne ich seit langer Zeit. Als „seltsam“ oder gar „verstockt“ bezeichnet zu werden, tut weh, aber es erscheint mir als unveränderbar.
Doch ich habe mich für den Kanal mit der roten Kugel ent-schieden, auf dem der deutsche Hersteller mit den drei gro-ßen Buchstaben, der bereits einige Jahre das Hochpreissegment bedient, jede Woche die Einkaufskönigin einer Stadt wählt. Er spricht langsam und deutlich, niemand quatscht ihm hinein, und doch verstehe ich ihn nicht. Ängstlich beginne ich mit den beiden Männern zu diskutieren, die mir immer wie-der versichern, alles optimal eingestellt zu haben, und das Klangerlebnis selbst ganz wunderbar finden. Sie verabschie-den sich, wünschen mir noch einen schönen Tag und lassen mich mit einem bitteren Gefühl zurück.
Da wir erst vor Kurzem in dieses Haus gezogen sind, ist unser Wohnzimmer noch fast leer, aber ich höre alles Mögliche in diesem Raum. Die Zeiten, in denen man glaubte, Menschen mit Tinnitus hätten eine direkte Verbindung zu den Göttern und wären Auserwählte, sind längst Geschichte, heute gelten sie eher als verrückt. Und verrückt – im Sinne von sich am falschen Ort befindlich und aus der Ordnung herausgefallen – fühle ich mich tatsächlich. Am Abend verteilen wir dicke Teppiche und diverse Stühle im Raum, aber die Akustik will nicht besser werden.
Da fällt mein Blick auf die Basisstation unseres Telefons. Ba-sisstation klingt schon so feindselig, wie die Basisstation der internationalen Truppen in Afghanistan. Sollte hier gar völlig regelwidrig die Basisstation einen Anschlag auf die Raumakustik verüben? Ich verbanne das Gerät, das wir für mich gekauft haben, damit mir die neueste Technik möglichst viel Teilhabe am Leben ermöglicht, ins Bügelzimmer und schalte den Fernseher ein. Mittlerweile bin ich so aufgeregt, dass ich vor allem das Blut in meinen Ohren rauschen höre. Doch dann beruhige ich mich und nehme den Unterschied wahr: Ich kann nicht nur hören, sondern auch verstehen! Was für eine süße Erkenntnis!
Noch oft werde ich erleben, dass der Fortschritt der Technik nicht nur hilft, sondern zuweilen auch vom Leben ausschließt. All die Telkos, Webinare und sonstigen virtuellen Veranstaltungen, die mir unverständlich bleiben, zoomen mich raus. Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, als rauszoomen noch die Vergrößerung des Blickfelds meinte.