Geht in die lektorale Arbeit: Reinhard Rakow AN DEN SEITEN DIE IRRTÜMER. SEHNSUCHTSABRAUM, HALDEN AUS FLUCH

Reinhard Rakow
AN DEN SEITEN DIE IRRTÜMER. SEHNSUCHTSABRAUM, HALDEN AUS FLUCH.
Reden, Essays, Notate
Auswahl 1995 - 2015

Geest-Verlag 2016

 

Tagebuch, 20.04.1995

Novalis: “Was man liebt, findet man überall, und sieht überall Ähnlichkeiten. Je größer die Liebe, desto größer die ähnliche Welt. Meine Geliebte ist die Abbreviatur des Universums, das Universum die Elongatur meiner Geliebten.”

“Man sollte plastische Kunstwerke nie ohne Musik sehn — musikalische Kunstwerke hingegen nur in schön dekorierten Sälen hören. Poetische Kunstwerke aber nie ohne beides zugleich genießen. Daher wirkt schöne Poesie im schönen Schauspielhause, oder in geschmackvollen Kirchen so außerordentlich. In jeder guten Gesellschaft sollte pausenweise Musik gehört werden.”

“Jeder Mensch sollte Künstler sein. Alles kann zur schönen Kunst werden.”

“Die Poesie will vorzüglich als strenge Kunst betrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf, Posie zu sein. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig herumlaufen und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist der ganz verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüt, Gewandtheit im Nachdenken und Betrachten, und Geschicklichkeiten alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Tätigkeit zu versetzen und darin zu erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst.”
Tagebuch, 15. Februar 1999

Ein Fehler! Ein Fehler: Da eine Bildunterschrift unvollständig, dort eine falsch, hier statt einer reichsdeutschen eine russische Uniform! Ha, wie sie jetzt Schenkel schlagen, wie sie ihre geschichts- und gesichtslosen Zeigefinger richten auf die, die ihnen schon die ganze Zeit verdächtig bis zuwider waren! Sie spüren das Oberwasser und lassen sich von ihm tragen auf die Titelseiten der Tageszeitungen und Magazine, fläzen sich dort selbstgefällig breit, ihre Bedenken im einzelnen und besonderen und vor allem ihre Einwände dem Grunde nach zum Besten gebend. Die Botschaft heißt, kurzgefaßt: Erstens gab es so viele Wehrmachtsangehörige, daß deren Verstrickung in Nazi-Gräueltaten nicht sein darf; läßt sich nationalsozialistisches Unrecht vielleicht noch qua Stigmatisierung und/oder Tabuisierung ausblenden, gelingt dies bei einer so volksübergreifenden Schuld ja doch ungleich schwerer. Zweitens sind wir es leid, laufend mit unserer Geschichte konfontiert zu werden. Am liebsten wäre uns, wir würden die Zeit zwischen 33 und 45 ganz ausblenden. Drittens ist dies schon deshalb vonnöten, damit Deutschland der eigenen Stärke mit dem gebührenden Stolz bewußt sein kann und wagen lernt, diese weltpolitisch einzusetzen. Drum gilt es, alles an unangenehmer Erinnerung auszulöschen. Den, der gegen die Verbote des Mainstream verstößt, mundtot zu machen. Die Walser-Rede und das Bekenntnis zu einem Holocaust-und-Schluß-damit-Denkmal waren ja nur der Anfang.