Geplanter Leseablauf der dritten Buchpremiere Wenden am Mittwoch in der Berner Kulturmühle

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"Wenden" bewegt -- Mittwoch Premiere in Berne

Am Mittwoch, 24.10., beginnt um 19:30 in der Kulturmühle Berne die dritte Premiere des Buches "Wenden". Wie schon in den Veranstaltungen in Brake (Freitag im Landhaus Hammelwarden, ca. 120 Gäste) und in  Nordenham (Sonntag im Muesum, 70) werden auch diesmal vorwiegend Autoren aus dem Ort und der näheren Umgebung,  hier also aus Berne, Elsfleth und Lemweder, ihre Texte lesen.

Folgender Ablauf ist geplant:

 

Lebenswenden

Adams-Korz, Elsfleth  Jahreswenden 1

Marburg, Lemwerder  Briefeschreiber 2

Wieters-Wilcke, Neuenfelde  Nahender Abscheid 3

Ferling, Lemwerder  Abschied 4

Schepker, Berne  Sieben Leben, jetzt 5

 

Beziehungskisten

Heidemann, Elsfleth  Kate 6

Krautstein, E Sommerstolz 7

Töllner, E Heiraten damals 8

 

Krieg

Linnemann, Nordenham  Onkel Georg 9

Callies, Berne  Vater 10

 

Wesermarsch

Scheufler, Elsfleth  Knallgottesdienst 11

 

Natur

Meyer, Großenmeer  Zeit der Veränderungen 12

Walter, Elsfleth Noch lag der letzte Schnee 13

 

Fremde Länder

Lohmann Elsfleth – Texas 14

 

Heiteres

Stein, Berne  Krokodilfunkschoon 15

 

Sagen und Märchen

Kuilert, Brake  Rattenprinzessin 16

Moore, Berhne  Meerweibchenuhr 17

 

In Nordenham las am Sonntag u.a. mit dem 86-jährigen Hans Wohlkopf der älteste Teilnehmer. In Berne wird der jüngste Teilnehmer dabei sein, der 14-jährige Luzian Krautstein aus Elsfleth. Schon die beiden bisherigen Veranstaltungen haben die lesenden Autoren und ihre Zuhörer sichtlich bewegt, sind doch viele der Texte spürbar "mit Herzblut" geschrieben. Das gilt auch für die nicht-autobiografischen, rein fiktionalen Texte. In Berne wird eine  Mischung von realen und fiktiven Texten zu hören sein. Neben Ernstem und Anrührendem steht auch Humoriges auf dem Plan.


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Ollivia Moore
Meerweibchenuhr und Kreuzfahrt im Stedinger Land
Phantastische Geschichte über die Reise eines Zauberschiffes durch die märchenhafte Wesermarsch


AUSZUG

Wir suchten den Bremer Dom. Gerade schritt Erzbischof Gerhard, geschmückt mit prunkvoller Mitra und Krummstab, hinein und umklammerte dabei hochmütig sein Brustkreuz. Kriegerisch blinkten ein Kettenhemd und ein Schwert unter dem violetten Messgewand. Während seiner Predigt donnerte er: »Die Ketzerei soll ausgerottet werden! Hier habe ich das Handschreiben des Heiligen Vaters, eine Bulle aus dem italienischen Anagni. Papst Gregor schleudert den Bann gegen die gottlosen Stedinger. Sie sind Ketzer, die sich Rat bei weisen Frauen und Wahrsagern holen und ihren heidnischen Bräuchen nicht abschwören wollen. Gegen sie wird das Kreuz gepredigt. Ein Kreuzfahrerheer wird zur gewaltsamen Bekehrung der Stedinger ausziehen, und sie werden endlich erbarmungslos vernichtet.« Er erhob eine dicke Kerze: »Wir sprechen über die Stedinger, die ketzerisch und gottlos sind, den Bann aus! Tammo von Huntorf, Boleke von Bardenfleth und das ganze halsstarrige, steifnackige und widerspenstige Bauernvolk der Stedinger: Anathema sit!« Er stieß die Kerze mit Gewalt gegen den Steinboden und ließ sie fallen, nachdem sie verloschen war. »Das müssen die Anführer der Bauern sein«, wisperte Brigid dazwischen.
»Ungehorsam ist Götzendienst! Die Stedinger verweigern uns den Zehnten und wollen auch keine Klöster auf ihrem Boden. Reiche Beute ist euch gewiss! Auch voller Ablass aller Sünden wie bei der Fahrt nach Jerusalem.«

Draußen brach die Nacht herein. Die Trommelwirbel der Werber riefen zu den Fahnen. Bremer Ratsherren in langen Mänteln mit pelzverbrämten Kragen strebten dem Bremer Ratskeller zu. Wir folgten ihnen die Stufen zum Gewölbe hinunter. Eines der Priölkenseparées war frei und der Saaldiener stellte eine Schüssel Labskaus, garniert mit Rollmöpsen, Eiswetteschnaps in kleinen Gläsern und eine Zinnkanne mit schäumendem Bier vor uns hin. Wir hörten die erregte Stimme eines Ratsherren nebenan: »Papst Gregor hat die Inquisition den Dominikanern übertragen und ist bereit, jeden zu verdammen, den sie der Ketzerei bezichtigen. Es ist ein Kampf um mehr Macht. Die Stedinger werden gebannt, den Schlag führen dann die Kirchenfürsten und ihnen gehört auch die Beute. Aber der Erzbischof macht Zugeständnisse an uns Kaufleute. Die Zölle im Erzbistum Bremen werden aufgehoben und wir erhalten Beute aus dem Stedinger Land. Ein Kreuzfahrerheer soll aufgestellt werden, Fürsten und Abenteurer aus Brabant, Seeland, Oldenburg und Flandern werden gegen die Stedinger ziehen. Dieses Heer wird dort eindringen und dann werden die Waffen sprechen - gewaltsame Bekehrung bedeutet Vernichtung.«
Wir schlichen uns wieder an Bord. Aus dem Salon wehten romantische Orchesterklänge. Ein beinahe voller Mond goss silbernes Licht über die Deiche. Lautlos glitt unser Schiff über den glatten Strom dahin. Brigid trank Prickelwein aus der Flasche, ihr perlendes Lachen wurde hemmungslos. Ein Luftzug zupfte mit unverschämt beweglichen Fingern an ihrem Gewand und lockerte den Ausschnitt. Felix bekam den Gesichtsausdruck eines Jägers, der ein seltenes Wild erblickte. »Mondbeglänzte Zaubernacht«, murmelte er verführerisch in ihr Ohr, »wollen wir?« Er führte sie auf die Tanzfläche. Wille tanzte nicht, aber er trank viel. Brigid wirkte derangiert. Ihr Rock bauschte sich. Wille saß verlegen neben ihr und schaute sie begehrlich an. Felix spottete, seine keusche Anbetung entspräche sowieso nur Sitte und Gewohnheit. Willes durchsichtige Wangen wurden augenblicklich blutrot. Auf seinem Antlitz spiegelten sich Selbstzweifel und Eifersucht. Felix begann ungeniert, Brigid zu küssen und an ihrem Strumpfband zu ziehen. Nun wirkte er wie ein Mann, der sich sicher war, dass es ihm gleich gelingen würde, das begehrte Wild zu erlegen.

Am nächsten Morgen erreichten wir Hörspe. Wille war in gedrückter Stimmung. »Hier soll es einen malerischem Kiekpadd geben«, versuchte ich ihn aufzumuntern. Unter bleiernem Himmel und bei eisigem Wind entdeckte ich im gefrorenen Graben eine Grünpflanze, die versuchte, das Eis anzuknabbern. ‚Krebsscherenstecklinge – nicht pflücken! Kann Finger abtrennen!’, stand auf einer Schautafel daneben. Wir betrachteten grüne Tränenweiden und ein schwarzes Blümlein Vergissmein. »Ich bin ein unglücklich Liebender mit einer unerfüllten Liebe. Ein Fremdling, der das Leben flieht, und jetzt schaue ich nur noch tote Natur.« Wille seufzte entsagend. Ich antwortete: »Du bist ein verzweifelter Wehmelle in einem dunklen Seelendrama!«, und bot ihm aus einer mit Weidenruten umflochtenen Flasche einen Seelentröster der Marke ‚Wider jedes Weh’ an. »Nur Täuschung ist für mich Gewinn«, rief er und trank in einem Zug die ganze Flasche leer.
Als wir zum Schiff zurückkehrten, war frischer Schnee gefallen. Wille ging durch
die Verwehungen und suchte Brigids Fußspuren. »Ich such im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur. Ich liebe sie, ich liebe sie …«, flüsterte er.
Die Nacht wurde grauschwarz, alle Sterne waren ausgelöscht. Graupelschauer knallten wie Kugeln an die dunklen Fenster. Beim Schein von Fackeln wurden Schüsseln mit Grünkohl und Pinkelwurst aufgetragen. Felix saß an einem rohen Eichentisch und speiste genussvoll mit einem Holzlöffel Röstkartoffeln aus einer Kumme. Brigid aß gar nichts. Ich rückte neben sie. »Ich muss mal mit dir reden. Wille tut mir leid. Warum behandelst du ihn so?« Sie antwortete: »Wille malt von mir ein Sehnsuchtsbild. Einen reinen Liebeshimmel ohne Untreue und Sünde, pedantisch an seinen Minnebanden gehalten. Felix hingegen liebt in den Frauen nur die Eroberung. Er umwirbt mich, um Wille auszustechen.«
Es wurde bitterkalt. Über Nacht fror die Ollen zu und unser Schiff saß in einer dicken Eisschicht fest. Gegen Mittag war die Welt in wundersames weißes Licht getaucht. Der Schnee funkelte in der Sonne, und wir veranstalteten ein Eisvergnügen auf dem gefrorenen Fluss. Brigid war sprühender Laune. Sie trug einen hellblauen Umhang, gefüttert mit Schwanendaunen. Anmutig glitt sie auf ihren scharf geschliffenen Kufen, dass das Eis nur so stäubte. Felix rieb sich die behandschuhten Hände. Da rollten über den gefrorenen Deich unter lautem
Klimpern goldene Münzen herüber und wanderten in einer endlosen Reihe Felix hinterher. Wille hatte vergessen, seine Schuhe anzuziehen. Barfuß stand er auf dem Eis, wankend vor Kälte. Er zeigte auf die Geldstücke und fragte: »Was ist das denn?« Felix sagte: »Das ist meine ‚Groschenspur’, die fallen aus meinen Zeitungen und laufen mir überall hin nach.« Bestürzt musterte Wille den wandernden Reichtum. »Ich habe so oft schon geliebt, bin aber kein Mal wiedergeliebt worden. Dies ist eine Welt, in der nur Geld die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt«, klagte er.

Wir kehrten zurück in die Schiffsmesse. Brigid saß allein am Fenster. Felix blickte sich verstohlen um und sachte glitt ein Briefchen in ihr Mieder. Wille bemerkte es. »Minneliederlicher«, schnaubte er. »Es ist anscheinend notwendig, bei einer Dame etwas mehr zu suchen als in einer Konversation gegeben werden kann. Ich aber suche ewige Liebe und Treue!« Traurig betrachtete er die Eisblumen auf den mit Blei eingefassten runden Glasscheiben der Kajüte, die neben Felix anfingen zu grünen. Felix pflückte eine karierte Fritillarie und reichte sie Brigid. Sie hielt die Schachbrettblume kurz an ihre Wange und ließ sie dann achtlos fallen. Heimlich nahm Wille die Blüte auf und führte sie scheu an seine Lippen. 
Berne war ein Burgdorf erbaut aus Holz und Lehm auf Sockeln von Findlingssteinen. Obwohl es Winter war, klapperten Störche auf einem Dach.
Felix fand eine Gedenktafel. »Guck mal, wer hier auch geboren ist: ‚Dödel Bolle, Barde und Erfinder von Prägnantsprech’. Der hat doch früher mal gesungen: ‚Du bist mein Herz, du bist meine Seele’ - und seither verfolgt den auch eine Groschenspur.« Kopfschüttelnd gingen wir weiter zu dem Kaufmannsladen ‚Heini Wigga - Holzschuhe’.
Ein Ritter mit wehendem Mantel erschien und zog sein Ritterschwert. Er brüllte: »STEDING!« »EDELING!«, schrie Heini zurück. »Snack. Ik luster!« »König der Himmel«, rief der Edelherr und holte aus. Heini zog einen Holschen über die Hand und haute zu. »Slag de Krüzfahrer dood«, und der Ritter kippte samt Schwert in die Ollen. »Stedingsehre«, grinste Heini zu uns herüber.
Am nächsten Tag schenkte Felix uns ein "Bildnis". In Riesenlettern prangte auf der Titelseite: Irre! Hinni Wigga verwuppt den Ritter! Toll! Heini – die Faust der Stedinger! Kaufen Sie Heinis Holzklompen, da kanns’ bei’n Ollenfest mit übers Wasser laufen. Ich las weiter und plötzlich tröpfelte dunkles Blut aus der Zeitung hervor: Gebanntes Volk vom Schwert getroffen! Schlacht bei Altenesch, Ritter Heinrich von Brabant und Floris von Holland führen gepanzerte Streithengste rückwärts in Reihen der Bauern. Stedinger verteidigen sich wütend, Boleke und Tammo tot, Bauernheer niedergemetzelt, Erde rot von Blut, Stedinger geben ihr Land verloren.

Später, als wir längst alle wieder sicher zu Hause waren, fand ich beim Aufziehen der Meerweibchenuhr, die wieder spielzeugklein in der Bibliothek stand, eine Nachricht, verborgen in einem blutverkrusteten Banner:
Einziger Kreuzzug auf deutschem Boden! Papst gibt Kirchlichen Gnadenerlass für Stedinger! … sie werden vom Bann gelöst und die Erde wird wieder geweiht … da die geschlagenen Bauern in einem Massengrab mit den gefallenen Kreuzfahrern liegen …