Großartige Rezension von 'Auf-BRUCH in meine Zukunft' bei www.alliteratus.com
http://www.alliteratus.com/pdf/ges_aufbruch_an.pdf
Artur Nickel (Hrsg.)
Aufbruch in meine Zukunft
Jugendliche aus dem Ruhrgebiet blicken nach vorn
16. Essener Jugendanthologie
Geest-Verlag 2020 ⋅
420 S. ⋅ 12.50 ⋅
ISBN 978-3-86685-811-4
Selten hat das Wort Zukunft eine so zentrale Rolle nicht nur in un-serem Land gespielt. Weltweit fragen sich junge Menschen, wie ihre Zukunft aussehen soll, machen sich Sorgen um den beklagenswerten Zustand unseres Planeten; Schriftsteller warten mit einem innovati-ven Ideenreichtum auf, ergehen sich in bedrückenden und atembe-raubenden Zukunftsvisionen mit künstlicher Intelligenz und Robo-tern, Teleportation und Klons. Die „Brave New World“ ist in vielem eingeholt und machbar, Zukunftsangst prägt nicht nur die jungen Leute, und alle sehnen sich nacheiner schönen und vor allem lebenswerten Welt. Neue Fragestellungen brechen sich Bahn, die wir früher nicht kannten, war doch Zukunft etwas, das man nur für sich selbst ausmachen und planen musste. Heute ist die Zukunftsdiskussion weltweit ein gesellschaftliches Phänomen, das in der Regel emotional und leidenschaftlich diskutiert wird, unter jedem denkbaren Gesichtspunkt.
In den seit fast zwei Jahrzehnten erscheinenden „Essener Anthologien“ ist Ende 2020 ein neuer Band erschienen, herausgegeben wieder von Artur Nickel, der sich aber bis auf seine vier Seiten Einleitung wie immer völlig zurücknimmt und den Jugendlichen das Wort überlässt. Und auch dieser Band hat ein Thema, die Zukunft. Aber nicht irgendeine, sondern eine gleichsam personalisierte Zukunft, nämlich „meine“, verbunden mit einem „Aufbruch“, das Wort mit Bindestrich geschrieben, „Auf-Bruch“, was den Leser schon in die richtige Richtung weist, nämlich den „Bruch“, den zu vollziehen es für viele gelten wird. Und der Untertitel relativiert und weist die Richtung: „nach vorn“, ein posi-tiver Blick, mit der Hoffnung auf Erfüllung von Plänen und Träumen.Etwas mehr als 120 Jugendliche aus dem Ruhrgebiet haben zu diesem Thema geschrieben, ganz persönliche Texte zu ihrer eigenen Zukunft, in einer Zeit, die seit 100 Jahren erstmals geprägt war von einer Pandemie historischen Ausmaßes, die mit ihren Auswirkungen zweifellos auch ihrer aller Leben beeinflusst hat und es noch das ganze Jahr über tun wird. Entstanden ist aus diesen Reflexi-onen ein ganzes Buch – ein stilles Medium, das auf einen Leser setzt, der sich wiederum damit auseinandersetzen muss und wird, ein Medium, dem die Bilder aus dem Fernsehen und in den Me-dien fehlen und damit die große Zahl von Followern. Aber auch von solchen Mitläufern, die es viel-leicht nur schick finden mitzumachen und auf die Straße zu gehen und für sich selbst keinen Nutzen über diese Aktionen hinaus davontragen.
14 Kapitel gliedern die Texte, und ihre Überschriften zeigen deren ganze Bandbreite: Was mich be-schäftigt – Wir sprechen von Zukunft – Auf einmal kam Corona – Blick ins Vergangene – An meiner Schwelle – Zeit zum Erzählen – Entwürfe, biografisch (v)erdichtet – Die Schulglocke – Von Alltags- und Sehnsuchtshelden – Traumverhangen oder auch nicht – Meine Perspektiven – Du und ich? – Meine Wünsche – Bis ans Ende meiner Zukunft. Was freut: Kaum einer geht die Frage nach seiner Zukunft pessimistisch an, auch wenn sich Unge-wissheit und Unsicherheit als Themen wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Zu Beginn des Lesens habe ich mich gefragt, ob die Texte wohl anders ausgefallen wären, hätte es Corona nicht gegeben. Hat das Virus diese jungen Menschen unsicher gemacht, ängstlich, hat es sie vielleicht erst bewogen, sich überhaupt mit der Zukunft auseinanderzusetzen? Nein, ich glaube nicht. Zwar ist natürlich eine Unsicherheit dokumentierbar, aber die hat es immer gegeben und die gehört auch „irgendwie“ zum Thema selbst. Aber mehr als Ängste oder Verdruss behandeln die Jugendlichen in ihren unterschiedlich langen Beiträgen ganz andere Themen, in einer überwältigenden Vielfalt, in der sich eine nicht minder überwältigende Reife und Tiefe von Gedanken und Ansichten Bahn bricht. Da sind sehr persönliche Berichte, die von eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit oder gar von Erfahrungen der Generation ihrer Eltern sprechen, besonders von Jugendlichen, die als „Fremde“ nach Deutschland kamen, oft ohne die Sprache zu verstehen und doch mit eigenen Träumen und Wünschen. Manche richten sich ganz auf das eigene Privatleben, träumen fast klischeehaft von Fa-milie, Kindern, einem Haus. Andere sehen ihre persönliche Erfüllung in einem bestimmten Beruf, in einer Arbeit, im Entdecken von Welt(en) um sie herum. Sie geben Unwägbarkeiten des Lebens ebenso Ausdruck wie ihren Hoffnungen und Träumen, oft wohl wissend, dass diese sich nicht erfüllen werden. Sie verstehen es zu reflektieren und nicht nur ihre Zukunft von allen Seiten zu betrach-ten, stellen auch theoretische Fragen, etwa, was ist Zukunft eigentlich und wie geht man mit ihr um, war und ist sie überhaupt jemals beeinflussbar und planbar? Es hat mich gefreut zu lesen, wie persönlich wichtig ihnen allen die Frage war, und nirgendwo finden sich in ihren Antworten Kli-schees, Abgeschriebenes, Schlagwörter, denen man in ihrer Hohlheit oft genug in den sozialen Me-dien begegnet. Es ist ein wunderbares Buch, das ich bereits oft zur Hand genommen habe, um darin zu blättern und mich festzulesen, und genau das sollte man tun. Dies ist kein Buch, das man von vorn bis hinten durchliest. Man braucht Zeit, und es lohnt sich, sie sich zu nehmen und die Gedanken auf sich einwirken zu lassen. Man kann dem Buch nur allen Erfolg wünschen und eine große Öffentlichkeit, nicht nur wegen der Beiträge auf einem erstaunlich hohen literarischen Niveau, ehrlich und persönlich, nicht auf Effekte zielend, sondern um es als Anregung zu verstehen für das eigene Leben und das Eine oder Andere umzusetzen. Und so bildet es einen ergänzenden und doch ganz eigenen stillen und nicht weniger beeindruckenden Gegenpart zu den weltweit bekannten Aktionen in den Medien. Großartig!