Gunnar Evang legt Jury-Mitgliedschaft beim Bad Godesberger Literaturpreis auf und & Pfarrer i.R. Holger Evang-Lorenz gibt Siegerpreis des Literaturpreises zurück: Grund: Büchertisch bei Sarrazin-Veranstaltung



Eheleute Evang & Evang-Lorenz * Bertha Benz-Karree 157 * 51107 Köln

Parkbuchhandlung Bad Godesberg
z.Hd. Frau Barbara Ter-Nedden


Köln, den 21. März 2019
Internationaler Tag
gegen Rassismus

Bad Godesberger Literaturwettbewerb – ausgelobt durch die Parkbuchhandlung Bad Godesberg;
hier:
•    Büchertisch der Parkbuchhandlung im Rahmen der Lesung Thilo Sarrazins am 20. März 2019 in der Stadthalle Bad Godesberg
•    Gunnar Evang: Rücktritt als einer der Juror*innen des Bad Godesberger Literaturwettbewerbs seit 2017
•    Holger Evang-Lorenz, 1. Preisträger des 6. Bad Godesberger Literatur-wettbewerbs 2016: Rückgabe des 1. Platzes


Liebe Barbara,

Du hattest Dich trotz zahlreicher unsererseits geäußerter Bedenken (siehe unseren ausführlichen Mailwechsel zwischen dem 16. und 20. März 2019) dazu entschieden, an Deinem Angebot gegenüber der Münchner Verlagsgruppe und  dem FinanzBuch Verlag festzuhalten, mit einem Büchertisch der Parkbuchhandlung im Rahmen der o.g. Lesung u.a. am Verkauf der jüngsten 2018 erschienenen Publikation Thilo Sarrazins „Feind-liche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ ökonomisch zu partizipieren. Im Nachfolgenden schriebst Du, v.a. die Milieustudien am Rande einer solchen Lesung seien Dir sehr wichtig; diese hingegen wären u.E. glaubwürdiger gewesen ohne die öffentliche Präsenz eines kommerziellen Büchertisches der Parkbuchhandlung im Rahmen der o.g. Lesung Thilo Sarrazins.
Selbstverständlich ist die Parkbuchhandlung Bad Godesberg völlig frei in ihren jeweiligen unternehmerischen Entscheidungen - ebenso wie wir uns die Freiheit nehmen, daraus die für uns ethisch stimmigen Konsequenzen zu ziehen.

Der Beifall einer ultrarechten, fremdenfeindlichen Klientel für Thilo Sarrazins im Jahr 2010 erschienene rassistische Schmähschrift „Deutschland schafft sich ab“ nötigte uns seinerzeit zu deren gründlicher Lektüre. Auch Mitte vergangenen Jahres haben wir uns notgedrungen der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der hier in Rede stehenden zweiten und diesbezüglich ähnlichen Publikation Thilo Sarrazins gestellt: Der unverhohlene Rassismus sowie die pauschale Herabwürdigung von Menschen islamischer Identität sind für uns gänzlich inakzeptabel und überschreiten sämtliche rote Linien eines gebotenen gegenseitigen Respekts, der die unabdingbare Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft darstellt.

Bereits im August 2010 haben wir uns angesichts der rasanten wie katastrophalen gesell-schaftlichen Wirkungsgeschichte von dieser unwissenschaftlichen und diffamierenden Schmähschrift Sarrazins aus christlich-theologischen und ethisch motivierten Gewis-sensgründen klar und öffentlich distanziert, weil diese allein zu Lasten von Menschen mit Migrations-, Flucht- und Folterhintergrund geht.

Seinerzeit initiierten wir daher das „Multikulturelle Goethe-Projekt“, das mit der engagierten künstlerischen Kreativität des in Bonn lebenden britischen Komponisten David Graham sowie der lyrisch anspruchsvollen Übersetzung des deutsch-türkischen Komponisten Hakan Ulus (Salzburg) sein menschenrechtspolitisches Gesicht und sein anmutiges, einprägsames Klangbild erhielt: einerseits in Goethes deutschem Urtext und ebenso in lyrisch-einfühlsamer türkischer Übersetzung.
Das auslösende Moment: Thilo Sarrazin hatte in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ behauptet, dass aufgrund einer in etwa 100 Jahren bestehenden v.a. türkisch-islamischen Vorherrschaft in Deutschland niemand mehr z.B. „Wandrers Nachtlied“ in seiner späteren Version ‚Über allen Gipfeln ist Ruh‘ kennen werde. Dabei handelt es sich um eine kleine Dichtung Johann Wolfgang von Goethes aus dem Jahr 1780, veröffentlicht im Jahr 1815.
Thilo Sarrazins These: Das Deutsche in Deutschland verdünne sich immer mehr, und das intellektuelle Potential verdünne sich noch schneller; wer werde in 100 Jahren „Wandrers Nachtlied“ noch kennen? Die Koranschüler in der Moschee nebenan wohl nicht.

Rasch stellten wir, Gunnar Evang und Holger Evang-Lorenz, während unserer umfangreichen Recherchen im Vorfeld des Multikulturellen Goethe-Projekts fest, dass „Wandrers Nachtlied“ kaum mehr Oberstufenlehrern oder -schülern bekannt ist; einige wenige Musikliebhaber*innen erinnerten sich zumindest noch an die Schubertsche Solo-Vertonung (Franz Schubert, D 768), den Chorsatz von Friedrich Kuhlau oder die Solo-Vertonung Franz Liszts.
Nachweislich hat es die genuin bundesdeutsche Bevölkerung bereits längst selbst geschafft (d.h. ohne jegliche Mitwirkung zu- oder eingewanderter Menschen aus muslimisch geprägten Ländern), wesentlichste deutschsprachige Kulturschätze aus ihrem kollektiven Literatur-Gedächtnis zu löschen. Dieses niederschmetternde Resultat haben David Graham und ich, Holger Evang-Lorenz, nachdem das Multikulturelle Goethe-Projekt ausgereift war, in einem Radio-Interview des Westdeutschen Rundfunks am 19. September 2010 unmissverständlich benannt, darüber hinaus die übrigen rassis-tisch motivierten Thesen Thilo Sarrazins scharf kritisiert und ausführlich über das o.g. Multikulturelle Goethe-Projekt informiert. Zahlreiche Menschen deutschsprachiger, arabischsprachiger, kurdisch-soranisprachiger sowie türkischsprachiger Herkunft meldeten sich unmittelbar nach dieser Live-Sendung über den Westdeutschen Rundfunk bei uns: Lagerarbeiter, Politiker, Buchhändler*innen, Handwerker*innen, Jurist*innen, Orchestermusiker*innen, ungelernte Arbeiter und Hochschullehrer*innen aus ganz NRW und weit darüber hinaus. Johann Wolfgang von Goethes „Wandrers Nachtlied“ wurde bereits einen Tag später in einer deutsch- sowie türkischsprachigen Fassung für vierstimmigen Chor, begleitet von einem exzellenten Pianisten am Steinway-Flügel des WDR und mit David Grahams Kompositionsangaben „Lentino, senza razzismo“ unter großer Beteiligung deutsch- und türkischsprachiger Sänger*innen zunächst im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks Köln anlässlich der Eröffnung der Interkulturellen Woche am 20. September 2010 uraufgeführt. Die einleitenden Worte richtete Pfarrer i.R. Holger Evang-Lorenz an das internationale Auditorium. Während des Einstudierens bekamen insbesondere die deutschen Sänger*innen großen Respekt vor der Anmut und den sprachlichen Feinheiten, in die uns die Tochter einer türkischen Bundestagsabgeordneten pädagogisch-didaktisch hervorragend einführte.

Am 28. September 2010 haben wir anlässlich Thilo Sarrazins Auftritt u.a. mit Thesen aus seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ vor dem 5. Unternehmertag Bonn auf dem Gelände des ehemaligen Plenarsaals (des Alten Bonner Wasserwerks) mit einem stattlichen Chor, bestehend aus vielsprachigen Sängerinnen und Sängern, sowie zahlrei-chen Instrumentalist*innen und auf kulturell inspirierende Weise gegen Sarrazins ent-würdigende Thesen protestiert. Wir brachten somit einen zivilisierten Protest gegen die despektierlichen Entgleisungen Thilo Sarrazins zu Gehör und verliehen unserem Anlie-gen gleichzeitig in Flugblättern Ausdruck: Wir sind weder bereit, Sarrazins pauschale Diffamierungen bezüglich eines angeblich problematischen „Fortpflanzungsverhaltens von Muslimen“, bezüglich deren vermeintlich defizitärer intellektueller Kompetenz noch seine rassistische wie antiislamische Wortwahl („Kopftuchmädchen“ etc.) unwidersprochen hinzunehmen. Ausführliches Material zu unserem Protest in Form dieses Multikulturellen Goethe-Projekts ist diesem Rücktritts-Schreiben beigefügt.

Liebe Barbara,
jedwede Religionskritik - insbesondere im Blick auf die verheerenden fundamentalisti-schen Verirrungen sowohl im Christentum als auch im Islam in Geschichte und Gegenwart - hat ihre existenziell notwendige Berechtigung. Die Validität jeglicher Religionskritik hängt jedoch stets von der Validität ihrer wissenschaftlichen Methoden sowie einer stets disziplinierten Abstinenz im Blick auf jegliches einseitige erkenntnis-leitende Interesse ab. Das willkürliche Zusammenwürfeln fragwürdiger Statistiken, ohne jede exegetische oder historisch-kritische Grundlage und noch dazu mit dem unverkennbaren Ziel der Diskreditierung einer einzigen Religion, kommt zwangsläufig über das Niveau eines hobby-soziologischen Stammtisches nicht hinaus.
Wer im Rahmen einer erschreckend unwissenschaftlichen Pseudo-Religionskritik die Blutspur unbeachtet lässt, derer sich die Geschichte des Christentums im Blick auf ihre an Grausamkeit kaum zu überbietende Missionierungsgeschichte schuldig machte, gleichermaßen im Blick auf ihre mittelalterlichen Kreuzzüge, im Blick auf die ver-heerenden Folgen der Conquista, der unter christlich motivierter Mitwirkung die indigene Bevölkerung Südamerikas durch unfassbare Massaker zum Opfer fiel (allein der Dominikaner und Bischof Bartolomé de Las Casas setzte sich im Jahr 1542 nahezu erfolglos gegen den todbringenden Terror der Conquista zur Wehr), im Blick auf Hexen- und Ketzerverbrennungen bis hin zu jahrhundertelangem, bis heute nachwirkendem christlich-rassistischem Unrecht. Dieses endete keineswegs mit der Überwindung der ausschließlich christlich motivierten Apartheid z.B. in Südafrika am 1. Februar 1991.

Zu Sarrazins pauschalierenden Thesen im Blick auf ein ebenfalls pauschalierendes islamisches Frauenbild: Er übersieht, dass das sexistisch-frauenfeindliche Unrecht in christlichen Kirchen unvermindert andauert. Die protestantischen Kirchen hielten verbissen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts am Verbot der Ordination von Frauen zu Pfarrerinnen fest; die römisch-katholische sowie die orthodoxen Kirchen verweigern Frauen nach wie vor mit willkürlich unbiblischer Schein-Argumentation das Recht der Priesterweihe.

Zu Sarrazins fehlender wissenschaftlicher Kompetenz: Wer aus einzelnen anstößigen Aussagen in Suren des Korans sein Bild des Islam meint konstruieren zu können, und zwar ohne eine adäquate historisch-theologische Einordnung sowie ohne jegliche historisch-kritische Exegese, dem empfehlen wir als evangelische Theologen gerne die diesbezüglich erhellende Lektüre einzelner biblischer Schriften, z.B. Auszüge aus dem Buch Exodus (2. Buch Mose) oder Levitikus (3. Buch Mose): Welche intellektuell redliche Religionskritik könnte es verantworten, die jüdische sowie die christliche Religion auf die dort vorgeschriebene Steinigung wegen Ehebruchs oder Gotteslästerung (siehe hierzu insbesondere 3. Buch Mose, Kapitel 24, Verse 10-16) festlegen oder gar reduzieren zu wollen?
Was jedoch den tatsächlich ethisch-revolutionären Aspekt der christlichen Überlieferung betrifft, so weist sich Thilo Sarrazin durch eine bizarre Kenntnislosigkeit aus. Es reicht also keineswegs bereits, den Koran oder die Bibel einmal „ganz gelesen“ zu haben; mit wissenschaftlicher Unterstützung wären Sarrazin nicht derartige Fehlinter-pretationen wie die folgende unterlaufen:
"Jesu Wort 'Liebe deinen Nächsten wie dich selbst' umfasst ja nicht die ganze Menschheit, sondern zielt auf das jeweilige persönliche Umfeld ab. Anders konnte Nächstenliebe auch nie gelebt werden ..."
Allen Ernstes vertritt er die Auffassung, Jesu Gebot der Nächstenliebe betreffe primär den unmittelbaren Nachbarn: Also die Deutschen lieben die Deutschen, die Luxem-burger*innen die Luxemburger*innen, die Türk*innen die Türk*innen und die Nigerianer*innen die Nigerianer*innen. In seinen gefährlich eklektischen biblischen Recherchen übersieht Thilo Sarrazin offenbar ganz und gar den Aspekt der Nächsten-liebe insbesondere gegenüber einem Menschen, der nicht zur eigenen Ethnie gehört: Ich empfehle ihm hier dringlichst die Lektüre des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37).
Völlig zu übersehen scheint der selbsternannte Religionskritiker Sarrazin den Appell des Jesus von Nazareth zu einer Nächstenliebe, die die Feindesliebe inkludiert:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ (Matthäus 5, 43 bis 48) Hier formuliert Jesus von Nazareth der Überlieferung nach einen Anspruch, an dem Christen tagtäglich scheitern, um sich dies so aufrichtig wie möglich eingestehen zu lernen, ohne dieses lohnende Ziel je aus den Augen zu verlieren.

Vielleicht hätte Thilo Sarrazin bezüglich seiner erschreckend kenntnislosen religions-spezifischen Thesen sinnvollerweise zuvor die Beratung kompetenter und exegetisch fachkundiger christlicher Theolog*innen sowie die Beratung durch im Koran beschlagene historisch-kritisch analysierende Islamwissenschaftler*innen in Anspruch genommen. Klüger noch(Dir bereits persönlich übergeben);: Sarrazin hätte sich erst gar nicht auf ein ihm nachweislich restlos fremdes Terrain begeben.

Mit seiner inkompetenten, überaus kenntnislosen wie vorurteilsbeladenen Islamkritik führt Thilo Sarrazin seine geneigten Leser*innen ohne die gleichzeitige Benennung des gegenwärtigen christlichen Fundamentalismus‘ in seinen aktuellen rassistischen, sexistischen sowie homophoben Entgleisungen vorsätzlich in die Irre, bleibt zwangs-läufig intellektuell unredlich und wirkt in der Folge verheerend gesellschaftsspaltend: Das ohnehin völlig inhomogene vermeintlich christliche Abendland sitzt hier in einem äußerst fragilen Glashaus. Dieses ernüchternde Faktum verlangt nach einer kenntnis-reichen Mäßigung, um einen aufrichtigen und zielführenden interreligiösen Dialog nicht im Keim zu ersticken.
 
Inwieweit Thilo Sarrazins rassistische Äußerungen und Publikationen inhaltlich noch unter das Recht der freien Meinungsäußerung fallen oder bereits unter den Verdacht der Volksverhetzung zu stellen sind, mögen die für diesen Straftatbestand qualifizierten Juristinnen und Juristen entscheiden. Freilich werden die Juristen der Münchner Ver-lagsgruppe sowie des FinanzBuch Verlags peinlichst und mit Argusaugen darauf geach-tet haben, dass es auch nicht eine einzige justiziable gedruckte Passage mehr gibt, die den reibungslosen Verkauf dieses jüngst erschienenen und immens lukrativen Sarrazin-Buches durch eine Klage wegen Volksverhetzung gefährden könnte.

Signifikant bleibt diesbezüglich, dass Sarrazins bisheriger Verlag (die Random-House-Tochter DVA) eine Publikation seines in Rede stehenden Buches strikt und unmissverständlich abgelehnt hat. Welcher seriöse Verlag möchte mit dem Titel des Mitte 2018 schließlich im FinanzBuch Verlag erschienen Buches „Feindliche Übernahme“, mehr noch mit dessen Untertitel „Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“, vor allem jedoch mit den hinreichend problematisierten Aspekten dieser Schmähschrift ernstlich in Verbindung gebracht werden?

Liebe Barbara,
Du weißt so gut wie wir, dass sich für die Veröffentlichung eines vermutlichen Bestsellers mit einer heute realiter bereits erreichten Auflage von ca. 270.000 Exemplaren stets ein raffgieriger Verlag jenseits der Einhaltung aller ethischen roten Linien findet: Die Münchner Verlagsgruppe, zu der der FinanzBuch Verlag gehört - so deren Pressesprecher Julian Nebel am 6. Juli 2018 - habe sich „das Buch geschnappt".

Dass die Veröffentlichung dieser Schmähschrift allein zu Lasten von ohnehin zutiefst vulnerablen und schwersttraumatisierten Menschen mit Flucht- und Foltererfahrungen geht sowie auf Kosten des gesamten deutschen Bevölkerungsanteils mit Migrationserfahrung, scheint weder für Thilo Sarrazin noch für seinen neuen Verlag ein Profit-Hemmnis darzustellen:
Ob dadurch ein gelingendes, sich gegenseitig bereicherndes Zusammenleben der deutschstämmigen Bevölkerung und hier gut integrierten Migrant*innen nachhaltig erschwert wird, scheint für einen allein auf Gewinn abonnierten Verlag offenbar nachrangig zu bleiben - ebenso, dass die rassistischen Thesen Thilo Sarrazins unsere bundesdeutsche Gesellschaft bedrohlich spalten könnten, insbesondere im Blick auf die dritte Generation von in Deutschland lebenden Mitbürgern mit einer familiär-biographischen Migrationsgeschichte. Deren menschliche wie berufliche Integration erlitt ohnehin aufgrund immenser politisch-struktureller Versäumnisse in den letzten dreißig Jahren fatale Rückschritte, für die u.E. diese dritte Generation keineswegs allein geschweige denn ausschließlich haftbar zu machen ist.

Zu den generell fragwürdigen Aussagen Thilo Sarrazins hinsichtlich der Zunahme krimineller Straftaten in Deutschland: Nahezu jedesmal, wenn ich (Holger Evang-Lorenz) als Pfarrer, Seelsorger und pastoralpsychologischer Supervisor mit den markigen und mitunter immens aggressiven Sprüchen sogenannter Intensiv-Straftäter mit und ohne Migrationshintergrund konfrontiert werde, sich mir aber zeitgleich Bruchteile ihrer kränkend-zerbrechlichen Biographie einsehbar werden, kommen unweigerlich gewohnt übereilte gutbürgerliche Bewertungskriterien sehr rasch an ihre Grenzen. Das einzige, was hier im seelsorglichen Gespräch hilfreich scheint, ist ein aufrichtiges Bemühen um Wertschätzung, damit erlittene Demütigungen langsamst heilen können - und die klare Benennung unserer grundgesetzlich verankerten Grundwerte. Ohne Respekt vor diesen verbrieften Grundwerten und den damit verbundenen unabdingbaren Spielregeln wird niemand in diesem Land leben können, ohne über kurz oder lang mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.
Dass dies auf Steuerhinterzieher aus gutbürgerlichem Milieu mit weitaus durchtriebenerer krimineller Energie ebenso zutreffen sollte, bedarf keines expliziten Hinweises. Menschen aus ärmsten Verhältnissen entgehen erfahrungsgemäß einer unnachgiebigen Strafverfolgung mit langjährigen Haftstrafen weitaus seltener als diese gutsituierte und z.T. akademisch-unternehmerische Klientel. Doch diese Realität der Kriminalitätsstatis-tiken scheint Thilo Sarrazin in seinen vorurteilsbehafteten Rundumschlägen gegen Straftäter insbesondere mit familiärer Migrationsgeschichte nicht anzufechten.

Wir (Gunnar Evang und Holger Evang-Lorenz gleichermaßen) als in bundesdeutschen behüteten sowie ökonomisch gesicherten Verhältnissen Aufgewachsene verweigern uns jeglichem Disrespekt gegenüber kriminell gewordenen Menschen angesichts der Diskri-minierungserfahrungen und Entwertungen, denen insbesondere muslimisch geprägte Mitbürger*innen, aber auch deutschstämmige Mitbürger*innen ohne wirkliche Bil-dungschancen im  bundesdeutschen Alltag ausgesetzt waren und nach wie vor sind.
Publikationen wie die Thilo Sarrazins, die Menschen mit Diskriminierungstraumata verhöhnen und ihnen die elementarste Wertschätzung verweigern, verhindern den für jegliche positive Entwicklung notwendigen Heilungsprozess:
Jede einzelne Schmähung aufgrund von rassistischer Verblendung zementiert unheilvoll gewordene gesellschaftliche Verwerfungen, die primär durch politisch versäumte Inte-rationschancen entstehen und deren Folgen mehr und mehr in unseren durch Parallelgesellschaften geprägten Städten sichtbar werden.
Dass derjenige Teil unserer Gesellschaft, der sich tagtäglich durch ererbte Riesenver-mögen und Spekulationsgewinne ungehindert und auf unsoziale Weise schamlos weiter bereichert, gleichermaßen eine nicht an den Werten des Grundgesetzes orientierte Parallelgesellschaft darstellt, scheint Thilo Sarrazin ebenfalls nicht bewusst zu sein:
„Eigentum verpflichtet“ - auch für einen gedeihlichen Zusammenhalt unserer Gesell-schaft; in einer sich digital in ungeahntem Tempo verändernden und z.T. ebenso rasant verarmenden Gesellschaft erst recht.
Ein Ex-Senator, der ein mit derart gravierenden sozialpolitischen blinden Flecken ausgestattetes Weltbild pflegt, darf sich über einen für ihn inzwischen realistischer gewordenen Ausschluss aus der Sozialdemokratischen Partei nicht wirklich wundern.

Unseres Erachtens brauchen wir nichts dringender als einen stetig wachsenden gesell-schaftlichen Konsens hinsichtlich Artikel 1 sowie Artikel 3, Absätze 1- 3 unseres Grundgesetzes (die Unantastbarkeit menschlicher Würde sowie der Schutz gegen jedwede Diskriminierung). Was eine humane Gesellschaft in Deutschland nicht braucht, sind gesellschaftsspaltende Autoren wie Thilo Sarrazin, die mit ihren rassistischen Publi-kationen diesen mühsam erkämpften und immer noch hauchdünnen o.g. gesellschaftlichen Konsens tagtäglich torpedieren.

Welch eine zukunftsfähige Ressourcenschonung würde es bedeuten, die eigenen Ener-gien nicht in nahezu sinnlosen Auseinandersetzungen verschwenden zu müssen und in kräftezehrende Abgrenzung zu investieren gegenüber solchen Brunnenvergifter-Thesen wie denen Thilo Sarrazins, der stets die vermeintliche Überlegenheit einer westlich-weißen Bevölkerung suggeriert?

Wie zukunftsweisend wäre es stattdessen, es den Bürger*innen Neuseelands gleich zu tun und als Antwort auf das islamfeindliche Todes-Massaker von Christchurch vom 15. März 2019 mit 50 Ermordeten den Appell der neuseeländischen Ministerpräsidentin Jacinda Ardern zu teilen (aus Respekt vor den Opfern trug sie ein Kopftuch): 
„We are one!“ sprach sie nach zwei Schweigeminuten den anwesenden Muslimen, der indigenen Bevölkerung der Māori, den Christen, Agnostikern, Atheisten oder noch ganz anders Gläubigen als kollektives Vermächtnis zu.

Der Bücherverkauf der Parkbuchhandlung im Rahmen der gestrigen Lesung Thilo  Sarrazins in der Bad Godesberger Stadthalle belastet uns beide insofern existenziell, als wir ja mit der Parkbuchhandlung auf jeweils unterschiedliche Weise in Verbindung stehen. Thilo Sarrazins Thesen gegen Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund stehen zumindest für uns persönlich außerhalb eines Spektrums, das wir noch mit dem Versuch einer politischen Ausgewogenheit in Einklang zu bringen vermögen.

Wir haben uns beide unser Leben lang (jeder für sich und zu zweit als kirchlich getrautes Ehepaar seit dem 3. Februar 1996) für Verfolgte und Fremde eingesetzt, 'die zur Winterszeit warm zu kleiden sind / die immer ihre Heimat im Arm haben wie eine Waise' (Nelly Sachs) und werden dies weiterhin tun, solange unsere Kräfte reichen. Dafür nehmen wir die bildlich-eindringlich von Nelly Sachs beschriebene 'Durchlöcherung unserer Teppiche' in Kauf:

KOMMT EINER
von ferne
mit einer Sprache
die vielleicht die Laute
verschließt
mit dem Wiehern der Stute
oder
dem Piepen
junger Schwarzamseln
oder
auch wie eine knirschende Säge
die alle Nähe zerschneidet -

Kommt einer
von ferne
mit Bewegungen des Hundes
oder
vielleicht der Ratte
und es ist Winter
so kleide ihn warm
kann auch sein
er hat Feuer unter den Sohlen
(vielleicht ritt er
auf einem Meteor)
so schilt ihn nicht
falls dein Teppich durchlöchert schreit –

Ein Fremder hat immer
seine Heimat im Arm
wie eine Waise
für die er vielleicht nichts
als ein Grab sucht.


Nelly Sachs,
geboren am 10. Dezember 1891 in Berlin-Schöneberg, gestorben am 12. Mai 1970 in ihrer Stockholmer Exilswohnung. Das Gedicht „KOMMT EINER von ferne“ verfasste die jüdische Exilsdichterin im Jahr 1959.
Liebe Barbara,

•    aus den oben genannten Gründen lege ich, Gunnar Evang, meine seit 2017 bestehende Mitgliedschaft in der Jury des Bad Godesberger Literaturpreises, der jeweils von der Parkbuchhandlung ausgelobt wird, nieder;

•    aus den oben genannten Gründen gebe ich, Holger Evang-Lorenz, die Urkunde über den mir am 1. Dezember 2016 verliehenen 1. Platz des 6. Bad Godesberger Literaturwettbewerbs zurück.
Das Preisgeld in Höhe von 500,00 € habe ich seinerzeit in meiner EKSt. 2016 ordnungsgemäß versteuert und unmittelbar danach vollumfänglich zugunsten der medizinischen Versorgung von Flüchtlingslagern sowie für die medizinische Erstversorgung von schiffbrüchigen Flüchtlingen auf dem Mittelmeer an „Ärzte ohne Grenzen“ gespendet. Solltest Du resp. die Parkbuchhandlung dieses Preis-geld zurückverlangen, so werde ich eine entsprechende Rücküberweisung aus meinen privaten Mitteln veranlassen.


Wir bitten Dich um Verständnis, dass wir mit der Fremdenfeindlichkeit, der Anti-Islam-Hetze sowie mit dem völkisch anmutenden Rassismus in den Publikationen Thilo Sarrazins nicht in Verbindung gebracht werden möchten - erst recht nicht indirekt über einen seitens der Parkbuchhandlung Bad Godesberg ausgeschriebenen Literaturwett-bewerb.


In der Anlage übersenden wir Dir:

1.    die am 1. Dezember 2016 an Holger Evang-Lorenz überreichte Urkunde über den 1. Platz des 6. Bad Godesberger Literaturwettbewerbs;


2.    umfangreiches Material zum „Multikulturellen Goethe-Projekt“ als literarisch-musikalischem Protest gegen die Rassismen Thilo Sarrazins in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahr 2010;

3.    unseren gesamten Mailwechsel hinsichtlich eines öffentlichen Bücherverkaufs anlässlich der Lesung Thilo Sarrazins am 20. März 2019 zwischen uns und Dir resp. der Parkbuchhandlung im Zeitraum vom 16. bis 20. März 2019;

4.    Hilde Domin: „Schiff ohne Hafen“: Aufruf zur Rettung von Vietnam-Flüchtlin-gen, 23.11.1978, in Aber die Hoffnung, R. Piper & Co. Verlag, München 1982, S. 86 bis 89, ISBN3-492-02795-4;

5.    den menschenrechtspolitischen Lyrik-Band „alles außer atem“ von Evang-Lorenz, Holger: alles außer atem, Vechta: Geest-Verlag, 2017 / 2. Auflage 2018, (254 S.) ISBN 978-3-86685-619-6 (Dir bereits persönlich übergeben).


Wir wünschen Dir persönlich, der Parkbuchhandlung Bad Godesberg sowie dem Bad Godesberger Literaturwettbewerb von Herzen viel, viel Gutes.