Hans Hermann Mahnken - Unerzählt
Unerzählt
Wir eilen durch diese Stadt, laufen zu Straßen-
bahnen oder Bussen, streben in Geschäfte und
Büros, überqueren Brücken, Straßen und Plätze,
und unsere Schritte hinterlassen auf dem Pflaster
keine Spuren.
Die stummen Fassaden und Straßen scheinen
nichts zu bedeuten, doch halten sie Erinnerungen
verborgen, Geschichten einfacher Menschen.
Die Stadt ist voll davon.
In diesem Geschäftseingang erfror neben einer
leeren Schnapsflasche ein Mann, der schon ver-
gessen worden war, bevor er lautlos starb in einer
endlosen, leeren Januarnacht, unter einem
sternklaren Himmel.
Dort an der Straßenbahnhaltestelle, inmitten des
brausenden Berufsverkehrs, offenbarte ein junger
Mann ihr zum ersten Mal seine Gefühle. Als sie
lachte, lief er davon, hinunter zum Fluss und starrte
bis tief in die Nacht auf das fließende Wasser, sah es
dahinströmen, steigen und fallen.
Die Stadt ist voll von Geschichten.
Eine Frau tanzte in einer warmen Sommernacht
über diese Stufen, sie trug ein helles Sommerkleid,
drehte sich mit geschlossenen Augen und erho-
benen Armen, taumelte lachend, der Mann fing sie
auf, sie hielten sich umschlungen, ihre Münder
vereinigten sich.
Diese Steine scheinen nichts zu bedeuten, doch
halten sie die Erinnerungen so vieler Menschen
gefangen, Geschichten, die niemand erzählt.
Wir gehen vorbei an Häuserreihen, passieren
namenlose Türen und Fenster, überqueren
traumwandlerisch Straßen und Plätze, und unsere
Schritte hinterlassen auf dem Pflaster keine Spuren.