HELGA BÜRSTER VOLL ZORN SIND DIE LIEDER / Zu Reinhard Rakows Gedichten
HELGA BÜRSTER
VOLL ZORN SIND DIE LIEDER /
Zu Reinhard Rakows Gedichten
Worte sind vieles. Ich bin auf der Suche nach einem, auf das ich steigen kann. Nach einem Aussichtspunkt, von dem aus ich ein Werk wie das vorliegende zu überblicken vermag. Ein Wort, um das sich meine eigenen Worte scharen können. Ich habe die Herausforderung ange-nommen, dieses Nachwort zu schreiben. Das Wort soll mir helfen, Reinhard Rakow gerecht zu werden. Ich brauche den kleinsten gemeinsamen Nenner für tausend Sei-ten Lyrik und stelle fest, dass der nicht zu finden ist. Ra-kow gehört nämlich zu den wenigen Schriftstellern, die sich jeglichem Etikett konsequent verweigern, obwohl die schreibende Zunft dies so vehement einfordert. Chapeau, Reinhard Rakow! Was du geschaffen hast, ist einzigartig in jeglicher Form. Man möchte sich davor verneigen.
Das Nachwort könnte hier enden. Ich gestehe, dass mich die Wucht seiner Worte für den Moment sprachlos ge-macht hat. Meine eigenen Worte dazu kommen mir klein und fade vor. Sie werden dem Wert bei Weitem nicht ge-recht. Ich bin gescheitert. Mir fallen nur Farben und Bil-der ein. Jedes Gedicht ein Gemälde. Bosch, Munck, Dali, Rakow. Die Winterreise. Achtzig Quadratmeter Lein-wand, ein Zyklus, der bundeweit Aufmerksamkeit fand und in vielen Ausstellungen zu sehen war, u.a. im Audi-max der Uni Oldenburg. Reinhard Rakow ist nicht nur Schriftsteller, er ist auch Maler. Seine Bilder begleiten die Texte und umgekehrt. Hier stehen sie seiner Lyrik konge-nial zur Seite.
Nach diesem Eingeständnis fällt mir doch ein Wort ein. »Barocco«. Es klingt wie eine portugiesische Rotwein-marke, wobei portugiesisch stimmt, Rotwein nicht. »Barocco« bezeichnet eine ungleichmäßige Perle, eine mit Dellen, Ecken und Kanten. Keine von den Einförmigen, sondern einen Vielförmige, Unverwechselbare. »Barocco« ist vermutlich das Ursprungswort einer ganzen Epoche, nämlich der des Barock. Eine faszinierende Zeit voller Widersprüche. Hier der Dreißigjährige Krieg mit Tod und Verderben, dort eine imposante Kunst und die Morgenrö-te der Aufklärung. Memento Mori und Carpe Diem. Die schiefrunde Perle. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Rakow’sche Lyrik.
In »von allen bildern« (Band I) heißt es in der letzten Strophe:
»sie dürfen sein:/ dunkel hell schwarz weiß/ oder bunt gepinselt/ gespachtelt gestrichelt/ collagiert bandagiert rund/ quadratisch hässlich/ manchmal sogar schön/ nur nicht glatt«
Alles Glatte und Leere, jegliche Form von Dekoration und Tand ist Rakow dabei zuwider, ob nun in seinen Bil-dern oder in seinen Gedichten. Er verkantet seine Texte, geht an die Schmerzgrenze des Sagbaren, widersetzt sich jeglicher Gefälligkeit. Selbst hinter seinen zartesten Lie-besgedichten zwinkert der Tod.
Auch ein schöner Schlusssatz für ein Nachwort, überlege ich, nur ist immer noch viel zu wenig gesagt. Ich wiege es in der Hand. Ohne Frage, dies ist kein schwachbrüstiges Bändchen, dies ist ein Monument. Eine Trilogie. »Blind Date«, »Alte Fabrik« und »Ode an Alle«, so die Titel der einzelnen Bände, jedes für sich genommen ein opulentes Werk. Dem Geest Verlag sei Dank, dass er sich auf so ein Projekt einlässt, denn Lyrik, so das Credo der heutigen Literaturmacher, ist so verstaubt wie Omas röhrender Hirsch an der Wand. Die Leser wollen Gängiges, leicht Verdauliches, so die allermeisten Verlage. Aber ist das so? Oder sind wir inzwischen auf „Mimis Krimi“ konditio-niert, weil die Kulturmacher uns das lange genug einge-bläut haben? Weil man dem Leser/der Leserin nichts mehr zutraut?
Sicher ist, dass ein Rakow da schwerlich reinpasst, nur schert ihn das nicht. Wir müssen ihm und dem Geest Ver-lag dankbar sein, dass sie ein Zeichen setzen gegen die Verödung der Literatur und gegen das Verschwinden der Lyrik. War sie nicht mal die Königsdisziplin? Gryphius, Heine, Mörike, die kennt man noch, aber wie steht es mit den Jungen? Schlecht. Wer sich heute auf dem Literatur-parkett behaupten will, schreibt den hippen Großstadtro-man. Ich-Erzähler. Präsenz. Angesagt ist das Lapidare, das Knappe, die Skizze. Der Künstler muss sich beeilen, wenn er etwas sagen will. Keine Zeit für lange und schwierige Sätze. Gefragt ist der Pitch, eine Geschichte in einem Satz, bitte!
Reinhard Rakows Schaffen widersetzt sich vehement. Er fordert konsequent, ja geradezu gnadenlos, sich Zeit zu nehmen für sein Werk. Nur mit Muße und Konzentration kann sich der Leser/die Leserin dem Rakow’schen Schaf-fen nähern und dies am Besten in Gänze, nicht Häpp-chenweise. Es lebe das barocke Labyrinth, in das man sich hier genüsslich verirren kann. Hinter jeder Kehre eine neue Perle.
Reinhard Rakow bezieht überdies Stellung und benennt die Dinge. Er seziert Missstände so akribisch, dass es bisweilen schmerzt. Er ist neben allem ein politischer Dichter. Es geht ihm um Gesellschaftskritik (z.B. in »Frohes Fest«, Band 1), den Umgang mit Geflüchteten (Vox Populi, Band 2) oder um Umweltzerstörung (Der Fluss I/II, Band 1). Der politische Rakow ist vor allem einer, der gegen das Vergessen anschreibt. Viel Raum nehmen der Holocaust und seine Auswirkungen ein (siehe »dies irae«, Band 3). Rakow kommt zu dem Adornoschen Schluss: Es gibt »auch im neuen Millennium (...) kein richtiges Leben im Falschen (...), des bin ich gewiss.« (Sil-vester 99, Band 1)
Es gäbe so viel, das noch zu erwähnen wäre, allein die Themenvielfalt. Heimat, Freundschaft, Musik und Kunst, Leben am Abgrund, Einsamkeit, Tod. Dabei blitzt an vielen Stellen ein feiner Humor auf, der fast überrascht, ebenso Satire und beißender Spott. Rakows Zunge ist oft spitz, sein Herz stets einfühlsam, und Frauen versteht er auch. Damit beherrscht er alles, sogar das Kurze und Knappe. Auch mit wenigen Worten vermag er so tief zu rühren, dass man weinen möchte.
Jedoch liegt ihm das Fabulieren näher, das Sich-Ausbreiten in kräftigen Worten und Bildern. Insofern ist er ein Verwandter Grimmelshausens, dem Rakow ein ei-genes Gedicht widmet (Grimmelshausen, Band 1).
Darin heißt es:
»Voll Zorn/ Sind die Lieder, verworfen das Den-ken/Ungestüm/Trommelschläge bei Nacht«.
Da sind sie, die Schlussworte. Nicht meine eigenen, aber ich hätte es nicht besser sagen können. Nur eines noch: Nach der Lektüre von Reinhard Rakow bin ich gewiss: Die Welt ist roh, herrlich, verliebt, heiter, verkommen und großartig. Mit einem Wort: barocco.
aus:
Reinhard Rakow
BLIND DATE
Gedichte 1
Ausgewählte Gedichte Band 1
Geest-Verlag 2021