Jenny Schon - Schlaftief … Gedanken zum 9. November
Ich hatte ein Helfersyndrom und ließ mich nach dem Mauerbau darauf ein, ein Jahr in Westberlin zu arbeiten, weil junge Arbeitskräfte fehlten. Zwei Freiflüge nach Hause und die ersten drei Monate ein Überbrückungsgeld von 50 Mark, weil man in Westdeutschland mehr verdiente als in Westberlin, waren der Dank.
Ich verließ in Köln meine geliebte Stelle bei der Bücherstube am Dom, wo ich mehr verdiente als in Berlin, und es dauerte zwei Jahre, bis ich eine adäquate Stelle gefunden hatte, die Stellen davor waren Verlegenheitsstellen. Weil ich mittlerweile die Aufnahmeprüfung für das Abendgymnasium bestanden hatte und das Abi nachmachen wollte, blieb ich.
Immer wieder gelockt durch Angebote ins Ausland, u.a. auch nach China, denn ich hatte mittlerweile Sinologie studiert. Aber der Jahrhundertwinter 1978/79 machte einen Strich durch die Rechnung, ich verunglückte schwer und war für Jahre bewegungsunfähig.
Also blieb ich.
Auch Heinrich von Kleist, bei dem ich draußen in Wannsee wohnte, hielt mich hier. Ich bekam eine leidliche Stelle an der Uni und versorgte die Studenten mit Informationen über das Funktionieren unseres Faches.
Es war mitten im Semester, die Türklinke kam nicht zur Ruhe, wo ist das Zimmer von Prof. Soundso, können Sie mir sagen, wo mein Seminarschein liegt, das Telefon klingelt. Frau Schon können Sie mein Seminar noch in das Vorlesungsverzeichnis aufnehmen…
Abends im Seminar, das ich über Zhuangzi und Mengzi anbot, beklagen sich Studentinnen, dass zu wenig Feminismus vorkommt, das sei doch in der Seminarankündigung der Grund gewesen, an dem Seminar teilzunehmen. Was ist Feminismus bei Mengzi zum Beispiel, er sieht in dem Menschen das Gute, ist es das? mehr noch, die Menschen verlieren ihre angeborene Güte, wenn sie sie nicht ständig anwenden und trainieren. Das tut die Mutter jeden Tag dem Kind gegenüber.
Auch erhält der Mensch eine gewisse moralische Erfrischung durch den Schlaf, das kam mir sehr gelegen, ich fiel jeden Tag erschöpft ins Bett.
Morgen muß ich die Vorlesungsverzeichnisse tippen, das dauert 14 Tage, bis alles gebacken ist, dann muß es in die Fachbereichsverwaltung, dann in die Druckerei, dann ist Weihnachten… sind die letzen Gedanken vor dem Einschlafen.
So läuft jedes Semester mein Kopfkino ab, im Sommersemester ist Pfingsten die Zäsur, das ist aber noch schwieriger, weil Pfingsten jedes Jahr anders ist, aber jetzt erst mal…
Ich muß ganz tief geschlafen haben, denn der Wecker zeigt eine unangenehme Verspätung, ich muß hetzen. Also fahr ich mit dem Auto, obwohl ich das aus Umweltgründen eigentlich nicht mehr will. Ich wohne in Halensee, eine Minute vom Kudamm weg, und kann bequem den Bus nehmen.
Ach, Scheiße, die drehen schon wieder am Kudamm einen Film, da stehen überall Trabbis auf dem Bürgersteig und ein Gewusele von Menschen.
Wahrscheinlich ein Hollywood Krimi, 007 im Anflug auf den Osten, den Gorbatschow entführen, der macht ja sowieso eine sowjetfeindliche Politik und ist wahrscheinlich in dem Film Doppelagent…
Ich komme auf Umwegen und verspätet im Institut an.
Mein Gott war der Kudamm wieder verstopft, komischerweise diesmal von Trabbis, sage ich. Warum trinkt ihr denn Sekt, hab ich einen Geburtstag übersehen?
Sag mal, bist du vom Mond, kommt Kollege Wiesental auf mich zu, Prost,
Kolleschin, berlinert er. Uff de Jenossen vom Osten.
Bist du schon blau, oder was? frage ich, lehne den Drink ab, ich hab zu tun.
Also jetzt arbeiten ist konterrevolutionär, Jenossin.
Du weißt, daß ich kein SPD-Mitglied bin.
Du warst aber doch mal Maoistin, der Osten ist rot, haste jesunjen, und jetzt isser frei.
Wie frei?
Ick glob et nit, jault er, die weeß nich, dat de Mauer offen ist.
Ich muß ja auch mal schlafen, protestiere ich und verziehe mich auf mein Zimmer. Mach das Radio an, ja, da ist der Teufel los, die feiern auch. Reden mit Ossis und das beim SFB. Dann muß es stimmen, die Mauer ist offen und dann waren die Trabbis echt.
Ich zittere. Oh Gott, denke ich, wenn jetzt die Armee durchdreht, die Russen kommen, hieß es immer…
Erst im Frühjahr trau ich mich ans Brandenburger Tor, trinke meinen Sekt, neben mir sitzt ein Mädel aus Australien, die war in Polen mit der Taize-Bewegung.
Sie sucht einen Schlafplatz. Ich nehm sie mit in meine Wohnung. Sie glaubt daran, dass der liebe Gott mich gerade an diesem Tag an diesen Ort geführt hat, um ihr einen Schlafplatz zu schenken. Sie bleibt drei Tage und lädt mich nach Australien ein, sie würde mir auch behilflich sein, falls ich ganz bleiben wollte.
Das wär doch eine Option, statt Brandenburger Tor Australien…An meine amerikanischen Verwandten schicke in Glas eingelassene Mauerstücke, auch hier hätte ich eine Option, wenn doch noch einer durchknallen würde…
Nun, wie man sieht, ich bin nicht ausgewandert.
Aus: Jenny Schon, Flüchtige, Erzählungen, Geest Verlag, 2019.