Karl Farr - Wehmütige Weisen (Literatur in schwierigen Zeiten)

Karl Farr (Essen/Ruhr)
Wehmütige Weisen

Es war Sonntagnachmittag und ich war in den Zug gestie-gen, der mich nach Hause, nach Essen bringen sollte. Es war noch viel Platz im Waggon. Das änderte sich, als eine Grup-pe Holländer beiderlei Geschlechts in das Abteil kam.
Sie waren vergnügt, aber nicht laut, und setzten sich auf die freien Plätze. Kurz darauf kam eine junge Frau herein. Sie gehörte nicht der Gruppe an und fragte mich, da alle weite-ren Plätze belegt waren, ob der Sitz neben mir frei wäre. Ich bejahte.
Bald begann sie, in einem Buch zu lesen. Während sie neben mir saß, hatte ich Zeit, sie durch Seitenblicke zu betrachten. Sie war äußerst hübsch. Was mir auffiel, war, dass ihre linke Hand nur zwei Finger hatte. Mit der blätterte sie aber ge-schickt die Seiten ihres Buches um.
Bald fuhr der Zug ab und die Holländer begannen zu singen. Es war ein lustiges Lied, das sie zum Besten gaben. Aber als sie geendet hatten, stimmten sie eine wehmütige Weise an. Soweit ich es verstand, handelte es sich um ein altes Liebes-lied. Mir wurde ganz wehmütig ums Herz, und ich bekam das Bedürfnis, die schöne Frau neben mir anzusprechen, unterließ es aber. Aber auch sie hatte ihr Buch zur Seite ge-legt und lauschte der Weise.
Bald hatten die Holländer das Lied beendet und erhielten Applaus von den anderen Mitreisenden. Auch ich applau-dierte. Ich blickte meine Mitreisende an und sie lächelte. Sie konnte ja nicht applaudieren.
So fuhren wir wortlos weiter, bis ich in Duisburg umsteigen musste. Sie fuhr weiter und auch die Holländer blieben im Zug. Vermutlich fuhren sie nach Emmerich, um dann weiter nach Holland zu gelangen.
Ich musste noch lange an die wunderschöne Weise und das Mädchen im Zug denken und tue es heute noch.