Manfred Cibura - Im Namen der Demokratie (aus: Rudi stand auf!)

IM NAMEN DER DEMOKRATIE!
STEHT AUF!
LEISTET WIDERSTAND!
Für alle, die sich eine Umkehr in die Zukunft wünschen.

Wir reisen in ferne Länder. Kein Winkel auf die-ser Erde ist uns zu entlegen, kein Weg ist uns zu weit. Die Sehnsucht, fremde Landschaften zu erkunden, fremde Kulturen zu entdecken und fremden Menschen zu begegnen, zieht uns wie ein übermächtiger Magnet an. Und dann geschieht das Unfassbare vor unserer Haustür. Der Fremde kommt zu uns, steht einfach vor uns. Verunsicherung keimt auf und wächst sich zu einer beklemmenden, alles erfassenden Angst aus. Archaische Weltbilder und Rassismus wer-den wiederbelebt und gesellschaftsfähig, selbst Faschismus flammt auf.
Warum fürchten sich die Menschen vor dem friedlichen Zuwanderer, der vor Krieg und Zerstörung flieht, der Geborgenheit und eine neue Heimat sucht? Die Menschen haben Angst, ihren Wohlstand mit diesem ungebetenen Eindringling teilen zu müssen. Der Fremde erfährt kein Mitgefühl und keine Wertschätzung. Statt Offenheit und Zuneigung zu erleben, schwappt dem Hilfesuchenden eine Welle des Hasses ent-gegen. Viele unserer Zeitgenossen nehmen eine Abwehrhaltung gegenüber diesem ungeliebten Gast ein, denn sie sehen ihren Status und ihre Besitztümer in Gefahr. Ihre gesamte Existenz scheint bedroht, denn dieser von ihnen angehäufte materielle Besitz ist alles, was ihr Leben ausmacht, was sie als Mensch und Persönlichkeit auszeichnet. Zum Schutz werden gerne unsere Kultur und vor allem unsere Werte bemüht, die es zu schützen gelte. Dabei vergessen viele, welche Werte diesen Schutz genießen, den uns unsere Väter ins Grundgesetz geschrieben ha-ben. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Unzählige Male wurden diese Worte geschrieben, zitiert und in Stein gemeißelt. Heute scheint keiner mehr diesen so einfachen Satz zu verstehen. Ist es Dummheit oder Narzissmus? Beides wäre bitterböse. Dieser erste und wichtigste Satz unseres Grundgesetzes kennt keine Nationalität, kein Alter, kein Geschlecht. Er kennt weder Muslim noch Christ, unterscheidet keine helle oder dunkle Hautfarbe, er kennt nur das eine Wesen, den Menschen. Wer dies nicht jeden Tag lebt und in dem Fremden nicht den Menschen erkennt, ist ein Feind unserer Verfassung. Und der, der einen Fremden hasst, ist ein Menschen-hasser.
Warum ist der Besitz für so viele unserer Mitbürger so wichtig? Immer mehr Menschen benötigen ihre Reichtümer, um über ihre eigene Tatenlosigkeit und ihre Unzulänglichkeiten hinwegzutäuschen. Ihr Zinnober ist ihre Droge. Sie erwerben Dinge und berauschen sich am Wert des Geschaffenen. Warum sollte man sich anstrengen, Kreativität zeigen und eine eigene Persönlichkeit entwickeln? Wieso nicht einfach das Selbstwertgefühl über den Besitz von wertvollen Dingen stärken, auch wenn andere sie geschaffen haben?
„Ich denke, also bin ich.“ Nein, Descartes ist tot.
„Ich habe, also bin ich.“ Dies ist die neoliberale Religion unserer Zeit.
Es ist naiv und einfältig, aber viele glauben tat-sächlich, sie hätten etwas im Leben erreicht, wenn sie viel besitzen. Das Ergebnis: Unablässig wird weit mehr Materie angehäuft, als benötigt wird. Die sündhaft teure Designerjeans im Schrank wird nicht getragen. Sie ist nur eine von vielen. Jedes Jahr flammt pünktlich eine chronische Hysterie auf. Das neue Smartphone ist auf dem Markt. Mit fieberhafter Erregung begeistert man sich für Autos mit sinnlos star-ken Motoren und die doppelte oder dreifache automobile Ausstattung wird Programm. Was früher Luxus war, ist heute Alltag, und der Rausch nach mehr Besitz macht nicht bei diesen kleinen Dingen des Alltags halt. Gold und kunstvoll gefasste, glänzende Edelsteine zieren Dekolletés und füllen die stählernen Tresore. Der Club der Millionäre wird von Jahr zu Jahr größer, die Motoryachten werden länger. Das exzessive Streben nach materiellen Gütern und der ausschweifende Genuss sind multiresistente Viren, die unsere gesamte Gesellschaft infiziert haben. Eine entfesselte Dekadenz ist der Treibstoff der Gesellschaft und Gift zugleich. Die Kri-tiker werden herablassend als Neider belächelt und man belehrt sie: „Hört auf mit dieser Neiddebatte! Gönnt den Besitzenden ihre wohlverdienten Schätze. Lasst sie doch in ihrem Über-fluss schwelgen und ihren Reichtum genießen.“ Nur eins wird dabei übersehen: „Genießen macht gemein“, das wusste schon Goethe. Diese Herren knechten euch und andere.
Der Feudalismus lebt!
Er ist lebendig wie nie!
Das Ganze mündet in eine nie gekannte Entsozialisierung. Unsere Gesellschaft und das menschliche Miteinander waren noch nie so stark von der Kultur des Egoismus geprägt. Die Menschen streben nach eigenem persönlichem Profit, maximalem Genuss und gesellschaftlichem Prestige. Verantwortung füreinander, die Sorge um den Mitmenschen und das Wohlergehen aller haben in einem Konglomerat narzisstischer Individuen keinen Platz. Die Menschen ziehen sich zurück. Unpersönlichkeit und Anonymität be-stimmen den Alltag des entsozialisierten Men-schen. Schon viele unserer Kinder leiden an ei-ner schmerzlichen Einsamkeit und an Depressionen. Statt Zufriedenheit und Glück wachsen in diesem Substrat Ängste, Misstrauen, Konkur-renz, Feindseligkeiten, Wut, Aggression und Gewalt.
Eigentum verpflichtet und soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Diese Idee ist keinem kommunistischen Manifest entnommen. Es sind die Worte unseres Grundgesetzes. Sie werden in unserem Land Tag für Tag verhöhnt. Eigentum ist Grundstock eines maximalen Profits und Nährboden für eine krankhafte Gier.
Unsere Gesetzgebung hat die Bedeutung des Besitzes für die Menschen und die Festigung des Neofeudalismus erkannt. Ungleichheit und Un-gerechtigkeit sind tief auf allen Rechtsebenen verankert. Diese von den wenigen ökonomisch und damit politisch Mächtigen geschaffene grundrechtswidrige Rechtsordnung hält schützend ihre Hand über alle Privilegien und Schätze von Wohlhabenden, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Selbst die größten Besitztümer und der überschäumende Reichtum von wenigen Superreichen werden nicht besteuert. Besitz wird nicht mit Abgaben belegt. In die Pflicht werden nur die tägliche Arbeit und der Fleiß von schaffensfreudigen Men-schen genommen. Selbst die kleinen Einkommen von körperlich schwer arbeitenden Menschen und der aufopferungsvolle Einsatz von alleiner-ziehenden Müttern werden mit hohen Abgaben belegt. Die öffentlichen Lasten werden von den Kreativen, den Schaffenden und den Fleißigen geschultert. Sie sind die Säulen unserer Gesell-schaft. Die, die viel besitzen, laben sich am Erfolg der sich Schindenden und festigen ihre poli-tische Macht.
Und dann geschah das Unglaubliche. Drei unserer Verfassungsrichter wagten es, sich aufzu-lehnen. Sie erhoben ihre Stimmen und empörten sich über diese Missachtung des Sozialstaatsprinzips unseres Grundgesetzes. Vor wenigen Jahren ertönte von ihnen ein eindringlicher und inständiger Weckruf an uns alle. Sie urteilten nicht nur. Sie formulierten ein beschwörendes Sondervotum. Reichtum darf sich nicht in der Folge von Generationen in den Händen weniger kumulieren und allein aufgrund von Herkunft oder persönlicher Verbundenheit unverhält-nismäßig anwachsen. Die Politik hat die Verantwortung, durch Steuern einen Ausgleich zu schaffen, damit sich die Ungleichheiten nicht verfestigen. – Ihre mahnenden Worte verhallten ungehört im Nichts.
Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie unser Grundgesetz von den Totengräbern unserer Demokratie zu Grabe getragen wird. Der kluge Kopf denkt und fordert heraus. Er setzt Impulse. Seine Kreativität ist der Schöpfer für etwas Neues. Seine Empathie schafft Bindungen in Freundschaften und Partnerschaften. Er ist in der Lage, etwas Eigenes zu schaffen.
Unsere Aufgaben sind gewaltig, aber das Prinzip Hoffnung kann sich erfüllen. Dies haben wir un-seren Kindern zu danken. Sie sind verletzlich und klein, aber sie sind scharfe Denker. Sie haben die Kultur des Egoismus, die Leitkultur, die unser Land prägt und unverkennbar macht, noch nicht absorbiert. Narzisstisches Denken ist ihnen fremd und sie sind noch nicht von dem Wunsch nach dem ‚immer mehr‘ betäubt. Das macht sie schon in jungen Jahren groß.
Unsere Kinder haben Angst vor Panzern und Raketen und fühlen sich bedroht. Warum bauen und verkaufen wir Waffen, mit denen die Hei-mat von Kindern, Müttern und Vätern zerstört wird? Gibt es einen Grund für unsere Gleichgültigkeit? Warum lassen wir Jungen und Mäd-chen, Frauen und Männer im Kugelhagel sterben? Nur zum Erhalt von Arbeitsplätzen und zum Profit unserer Rüstungsindustrie? Können wir in unserem Land nur dann gut leben, wenn wir teure Kriegsschiffe, Kampfjets und Panzer verkaufen, Waffen, mit denen unzählige andere Menschen abgeschlachtet werden? Unsere Kin-der sind Pazifisten und kennen die Antwort. Wir brauchen ihnen die Sinnlosigkeit von Waffen und Kriegen nicht zu erklären. Sie spüren, dass unser Wohlstand mit dem Blut anderer Men-schen bezahlt wird. Sie wünschen sich ein Ende des sinnlosen Tötens und Frieden für alle Men-schen.