Marianne Behechti - Das Besteck
Das Besteck
Es glänzte wie Gold, aber eigentlich war es Silber, sogar nur versilbert und für Spülmaschinen ungeeignet.
Ab und an zog sie die Schublade des alten Schranks im Keller auf. Die Serviettenringe lagen ganz vorn, sie waren mit antiken Reliefs verziert. Den Rest der Schublade füllte ein alter Besteckkarton, fleckig und abgestoßen. Das Besteck darin war für 12 Personen. 12 Personen! Wer brauchte ein Besteck für 12 Personen? Wie groß muss ein Esstisch für 12 Personen gewesen sein? Eine normale Familie hat auch früher nicht 10 Kinder gehabt und wenn, dann waren sie wahr-scheinlich eher arm und hatten kein Silberbesteck, schließ-lich musste man 12 Mäuler stopfen. Mutter, Vater, vielleicht ein Kindermädchen und eine Haushaltshilfe, dann blieben immer noch acht Kinder übrig. Wenn die unverheiratete Tante als Gesellschafterin mit in der Familie gelebt hätte, dann brauchte es nur noch sieben Kinder. Wie groß musste die Wohnung gewesen sein? Nein, ihre Großeltern hatten eine Wohnung in der Stadt und zwei und nicht sieben Kinder gehabt.
Die Messer waren sehr groß, sie sahen ein wenig wie Säbel aus. Die Gabeln mit ihren langen Zinken glichen kleinen Mistgabeln, seinen Nachbarn am Tisch hätte man damit bis auf die Knochen durchpieksen können. Und dann die Löffel. Ob die Menschen damals größere, weitere Münder hatten? Als sie einen dieser Löffel in den Mund steckte, musste sie sich fast übergeben, so weit reichte er in ihren Hals. ‚Materialverschwendung‘, dachte sie.
Damals wurde der Tisch mit einem gestärkten, weißen Damasttischtuch bedeckt, weiße, gestärkte Servietten lagen neben jedem Besteck, das militärisch exakt ausgerichtet wurde. Die Teller, ob sie gemustert waren oder einen Goldrand hatten, vielleicht in Königsblau mit Gold? Sie hatte noch einen kleinen Kuchenteller aus dünnem Porzellan mit einem solchen Rand.
Nur einen. Er sei aus der Zeit ihrer Großeltern, hatte ihr jemand gesagt. Das Besteck war schwer, das Muster am Griff … Manchmal, wenn sie Schublade aufzog, nahm sie ein Messer heraus, spülte und polierte es, bis es golden glänzte, und machte sich ein Butterbrot damit. Sie ließ den Griff in ihrer Hand warm werden und stellte sich dabei die Hand ihrer Großmutter vor, die vielleicht genau diesen Griff umfasst hatte und – wie ihre Enkelin heute – die Meinung vertreten hatte, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, egal wie lange man es poliert.