Marie Luise Knopp war zu Besuch in der Montessori Fachoberschule in Würzburg

Marie Luise Knopp – so heißt die Dame im blutorangenen Pulli– besucht die Montessori Fachoberschule, um aus ihrem Leben zu erzählen. Im Raum Nairobi ist ein kleines Auditorium entstanden und die diesjährigen 12.Klässler haben sich fast vollzählig eingefunden, um ihren Ausführungen zuzuhören.  

 

Geboren im Dorf und mit keinem sehnlicheren Wunsch als aus dem Dorf herauszukommen, so erzählt die sympathische Frau und trifft damit auf offene Ohren, sei sie zunächst im „Arbeiter- und Bauernstaat“ eine vielgelobte Lehrerin geworden. Eines Tages wird sie ins Direktorat geordert und dort von einem schulfremden und ihr unbekannten Mann nach einigen Lobhudeleien auf ihre Arbeit scheinbar beiläufig gefragt, ob sie denn nicht enger mit dem Staat zusammenarbeiten wolle. Sie sei ja Geschichts- und gelegentlich auch Staatskundelehrerin und sie wolle ja für ihren sechsjährigen Sohn  einen Kindergartenplatz. Marie-Luise weiß, wer da so scheinbar harmlos fragt, und was sich hinter der unscheinbaren Frage verbirgt. Die Stasi – „VEB Guck und Horch“ – möchte sie anwerben als Spitzel und Komplizin, die künftig darüber berichten soll, ob alle ihre Schüler auch schön brav an den Kommunismus glauben und der vorgegebenen Linie folgen. Sie verweigert von einem moralischen Ekel angetrieben die Zusammenarbeit und verlässt schleunigst das Direktorat. Von da an, sagt sie, habe der Staat sie auf dem Kieker gehabt.  
Die Lehrerin, die nicht bespitzeln möchte, wird fortan selbst bespitzelt. Der Terror gegen sie beginnt, operative Maßnahmen, wie es im Fachjargon der Staatssicherheit heißt, werden eingeleitet. Das Haus Luises wird z.B. in ihrer Abwesenheit so offensichtlich durchsucht, dass es einem einen Schauder über den Rücken laufen lässt. Doch die Stasi bewirkt mit ihren Abschreckungsmethoden das genaue Gegenteil. Erst durch diese Verbrechen gegen die Meinungsfreiheit oder die Unversehrtheit der eigenen vier Wände entsteht aus der vorherigen Skepsis und eigenen Rechtschaffenheit gegenüber dem Staat tatsächlich das Bedürfnis, in echter Freiheit, im Westen, zu leben. Sie lernt einen „BRD-Bürger“ kennen und verliebt sich, plant mit ihm zusammen die „Republikflucht“, der Passus im DDR-Gesetz, der quasi mit Hochverrat gegen den Staat gleichzusetzen ist. Und doch wundert es kaum, dass die Bürger dem Staat gar nicht so treu verbunden waren, wie der es sich wünscht. Im Gegenteil: Durch Misswirtschaft, schlechte strukturelle Bedingungen und damit einhergehende – gemessen am Westen – bescheidene Wohn-, Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite auch einer volksfernen Regierung, die sich durch ihre Maßnahmen spätestens nach dem Arbeiteraufstand 1953 immer unbeliebter beim Volk macht, ist der DDR Staat schon vor Marie Luises Fluchtversuch bei vielen Bürgern so unbeliebt, dass sie ihm den Rücken kehren und „mit den Füßen“ darüber abstimmen, ob sie lieber in der DDR oder in der BRD leben wollen. So unbeliebt ist der „realsozialistische“ Staat, dass ihm die Bürger auszugehen drohen. Daher auch die Mauer durch Berlin, der „Todesstreifen“ um die gesamte DDR inklusive Schießbefehl, die Stasi und eben auch der Tatbestand „Republikflucht“ als Gegenmaßnahmen. Oder um es offen auszusprechen: Als Terrorakte gegen die Bevölkerung, die im eigenen Land eingesperrt wird. 

 

Marie Luises Fluchtversuch misslingt. Genauer gesagt: Er wird sabotiert. Die Freundinnen, die im Ungarnurlaub mit dabei waren, entpuppen sich im Nachhinein als „IMs“ – inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, die unaufhörlich und unbarmherzig Beweise gegen Marie Luise Knopp zusammentragen, so dass sie der geplanten Republikflucht wegen überführt werden kann.  
Kurz darauf wird die junge Frau beim Abholen ihres Sohnes von der Schule mit diesem in ein Auto gezwungen, von ihrem Sohn getrennt, verhört und inhaftiert. Zunächst in U-Haft, dann wird sie verlegt in das berühmt-berüchtigte Frauengefängnis Burg Hoheneck, wo sie Schikane erlebt und auch wie Schikane Freundschaften zusammenschweißen kann. Ihrem Sohn wird übrigens erzählt, die Mama sei krank  

 

Was Marie Luise nicht weiß: Im Hintergrund wird bereits über ihre Zukunft verhandelt. Denn was auch heute noch kaum jemand weiß: So pleite ist die späte DDR, dass sie unliebsame Staatsbürger in Haft von der der BRD freikaufen lässt. Streng geheim natürlich und über staatsdiplomatische Umwege. Luises Glück. Eines Tages bekommt sie ihre Ausbürgerungsurkunde in die Hand und wird mit anderen Gefangenen unter großer Geheimhaltung in einen Bus gesetzt, der sie zu einem Austauschplatz transportiert, wo die Gefangenen die Busse wechseln. Die Reise geht weiter in einem schicken, gut gepolsterten West-Bus und dieser wiederum fährt sie in die Freiheiten der Bundesrepublik. Kurz darauf darf Marie Luise ihre Mutter wieder sehen und ihren Sohn. Sie wird außerdem wieder als Lehrerin tätig und unterstützt Schüler und Schülerinnen an Förderschulen.  

 

All dies erzählt die inzwischen 80jährige ehemalige Lehrerin mit dem jungen Herzen und den wachen, warmen Augen vor den etwa 20 Schüler:innen der 12. Klasse, der Schulleitung Diana Stanke und Uschi Wagner. Unterlegt wird das Ganze mit Quellendokumenten, wie z. B.einem Brief, den ihr Sohn an die „kranke“ Mutter schreibt und darin seine Hoffnung zum Ausdruck bringt, dass sie bald wieder gesund werde und von der Schule berichtet. Die Lehrerin fände er übrigens sehr schön, steht auch in den Brief. Da muss sie schmunzeln, die Luise.  

 

Die Zeit vergeht schnell bei so einer Geschichte. Nach den Ausführungen stellen Schüler noch Fragen. Ob sie mit der Stasi zusammengearbeitet hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie sich damit die Drangsalierungen hätte ersparen können? Nein, eine Zusammenarbeit mit denen und ihren Methoden stand für sie nie zur Debatte. Ob sie den RIAS gehört hätten? Natürlich, sagt sie. Ihr Vater, ein Schuhmacher, hatte ein altes Radio in seiner Werkstatt. Da lief der RIAS. Bei Besuch wurde blitzschnell der Sender gewechselt. Und wie der Unterricht so war, ob wirklich mit „Freundschaft“ gegrüßt wurde. Daran erinnert sie sich nicht mehr genau, aber dass ein sozialistischer Gruß runtergespult wurde, das weiß sie noch.  

Am Ende gibt es langen Applaus, freundliche Blicke und eine menschliche Atmosphäre im Raum. Nahbar ist die Dame und freundlich. Und komischerweise überhaupt nicht verbittert, obwohl ihr so viel Unrecht widerfahren ist.  

Dann verlässt die kleine Truppe das Gebäude wieder so wie sie gekommen ist. Wieder durch die verbotene Türe 

Was Marie Luise Knopp aber hinterlassen hat, ist ein tiefer Eindruck darüber, wie es war im „Osten“ und davon, was es heißt, Mensch zu bleiben.  

 

 

Martin Schelzig

 
 
Montessori-Schule Würzburg
Montessori Trägerverein Würzburg e.V.
Kloster Oberzell 16
97299 Zell am Main