Markus Feger - Käserinde

Markus Feger

Käserinde

„Kaffee und Käsekuchen für dich?“
Es ist kurz vor fünf. Joost platziert Teller und Tasse vor mir und kassiert gleich ab. Er hat Feierabend. Schichtwechsel.
Ich rühre Milch und Zucker in den Kaffee, steche eine Ecke des Kuchens ab und schaufle sie in den Mund. Schmeckt nicht übel. Rasch ein zweiter Bissen, dann stemme ich mich hoch und gehe über knarrende Dielen hinüber zu der möglicherweise alten Kommode mit dem Stapel sicherlich alter Zeitschriften.
Ein kurzer Blick auf die vier, fünf besetzten Tische: Hajo und Gert sind noch nicht da, Rosalie auch nicht.
Ich zerre ein zerlesenes Wochenmagazin aus dem Stapel, gehe an meinen Platz zurück und versuche im Halbdunkel eine der ebenso einfühlsamen wie klein gedruckten Ge-richtsreportagen zu lesen.
Hajo ist arbeitsloser Psychologe, spielt in einem Vorortverein Tischtennis und Schlagzeug in einer Rockband. Ab und an jammen wir zusammen auf Keyboard und Drums.
Gert nennt sich „Streetworker“, seitdem er stundenweise in einem Jugendtreff jobbt. Nebenbei verleiht er Verstärker und Boxen unklarer Herkunft und zweifelhafter Zuverlässigkeit. Neuerdings macht er auch noch einen auf Music-Manager.
Um endlich unsere Karriere anzuschieben, sagt er.
Werden sicher gleich kommen, Hajo und Bert. Fünf, halb sechs, das ist ihre Zeit.
Meist reden wir über Musik.
Falls nicht Rosalie an unserem Tisch sitzt.
Rosalie, um die vierzig, klein und breit, im weiten schwarzen Pullover, mit dunklem Lidstrich und grellroten Lippen, besucht nach der letzten von drei Scheidungen eine Schule für angehende Heilpraktiker.
Rosalie liebt ausdrucksvolle Gesichter und junge Männer.
Rosalie redet mit Vorliebe über die ausdrucksvollen Gesichter junger Männer.
„Die Physiognomie“, sagt sie, „ist der beste Schlüssel zur Seele. Zur männlichen Seele. Falls es überhaupt so etwas gibt …“
Wenn Rosalie redet, hört fast das gesamte Café zu. Zwangsläufig.
Rosalie spricht sehr laut, stakkatoartig und fast ohne Unter-lass.
Halb sechs. Hajo und Gert sind noch nicht da.
Käserinde betritt den Raum.
Käserinde setzt sich an den kleinen Ecktisch neben dem Durchgang zu den Toiletten. Fast immer sitzt er da. Wie er richtig heißt? Keine Ahnung. Weiß ich nicht.
Anfangs dachte ich, ‚Käserinde‘ würde er wegen seines Aus-sehens genannt: Lang und dünn ist er, bleich, mit dicken blonden Haarborsten.
Falsch gedacht.
Den Namen hat er von Rosalie. Neulich hat sie mir erzählt, wieso. „Der Junge hat ein Käserindentrauma, wusstest du das nicht?“
Wusste ich nicht.
Und wie Rosalie es geschafft hat, ihn zum Reden zu bringen, weiß ich auch nicht.
Üblicherweise sitzt er nämlich allein, mit ausdruckslosem Blick, ohne die anderen Gäste zu beachten, lacht ab und zu scheinbar grundlos und flüstert Unverständliches in sein Pilsglas hinein.
Sechs Uhr.
Die Lektüre des Prozessberichts über einen schießwütigen Gymnasiallehrer habe ich zu Ende gebracht. Schlage das Magazin zu. Leere meine Tasse und tupfe letzte Kuchenkrümel mit einem feuchten Zeigefinger auf.
Hajo und Gert scheinen heute nicht zu kommen.
Sind vielleicht mit Vorbereitungen für irgendeinen Gig beschäftigt, von dem ich nichts weiß.
Ich lasse mir von Sandra, die Joost abgelöst hat, frischen Kaffee, Papier und Bleistift bringen und beginne aufzu-schreiben, was mir Rosalie über Käserinde erzählt hat. Versuche, es in seinen Worten zu schreiben.

„Ich habe nichts gegen Käse. Frau Antje aus Holland, große, gelbe Käsekugeln, Edamer, Gouda, Leerdammer, oder wie auch immer, alles okay, echt.
Ich habe nichts gegen Käse, solange ich ihn nicht essen muss. Ich hasse es, Käse zu essen. Als Kind mochte ich noch nicht einmal Käse mit bloßen Händen anfassen.
Ich habe auch nichts gegen Frauen. Groß oder klein, dünn oder rund, blond oder braun, alles easy, echt. Kein Problem.
Zwei Jahre habe ich sogar mit einer zusammengelebt. Ellen hieß sie.
War echt okay, du. Große Augen, immer gut drauf, Humor und so, ging alles easy mit uns, verstehst du? Sie kochte, ich habe auf-geräumt. Arbeitsteilung. Kochte wirklich gut, die Ellen, wirklich. Bis der Arzt ihr gesteckt hat, sie soll keine Milchprodukte mehr essen. Quark, Joghurt, Käse, was weiß ich. Hatte sich eigentlich nie viel draus gemacht aus dem Zeug. Aber jetzt durfte sie nicht mehr. Allergie oder so. Wie das dann so geht: Auf einmal war sie echt scharf auf Käse. Schon aus Protest. Brauchte ihn, jeden Tag. Wenn ich einkaufen ging, musste ich ihr welchen mitbringen. Nicht viel, zuerst. Nur zwei, drei Scheiben mit möglichst großen Löchern. Einmal hab ich‘s vergessen. Da war aber die Hölle los, sag ich dir, hat mich voll zur Sau gemacht, die Ellen!
Zuletzt aß sie fast nur noch Käse. Morgens, mittags, abends. Und wer musste die Rinden wegräumen? Ich natürlich! Arbeitstei-lung, du verstehst? Käserinden, auf dem Teller, na sicher. Auf dem Küchentisch, neben dem Abfalleimer, kann vorkommen. Okay, alles easy, obwohl ich das Zeug nicht gerne anpacke. Aber dann: Käserinden in der Kaffeetasse, auf dem Deckel vom Honigglas, in meinem Joghurtbecher, in der Besteckschublade, im Brotkorb, zwischen den Äpfeln, in den Topfblumen, zwischen den Zeitungsseiten, den Sofakissen …“

Das Licht im Raum wird gedimmt. Das Schreiben fällt mir zunehmend schwer.
Ich rücke die Kerze, die auf dem Tisch steht, immer näher heran. Ein Blick auf meine Uhr: halb sieben.

„Der Rest“, hatte Rosalie gesagt, „ist rasch erzählt: Eines Tages sah der Junge überall nur noch Käserinden. Ob sie tatsächlich da waren – ich weiß es nicht. Schließlich lief er Amok: Rein in den nächsten Supermarkt, die Verkäuferin hinter der Käsetheke herausgezerrt und geohrfeigt, die Schneidemaschine ins Spiegelglas geschmettert, Schnittkäse und Käselaibe zerfetzt, die Theke demoliert. Du kannst dir nicht vorstellen, wie der Laden aussah. Als die Polizei kam, lag der Junge weinend mitten zwischen den Trüm-mern und stammelte nur: ‚Käserinden, Käserinden, überall Käserinden!‘ Wie es weiterging? Psychiatrie, zwei Jahre, glaube ich. Seitdem ist er nicht mehr …“

Eine Hand schlägt mir auf den Rücken, der Bleistift schrammt über das Papier.
Ich blicke auf. Neben mir stehen Hajo und Bert.
„Tut mir leid“, sagt Hajo strahlend, „ist ein bisschen später geworden. Ging nicht anders. Bert und ich haben gerade das absolute Ding festgemacht: Radiowerbung. Wir machen den Jingle für den neuen Cheeseburger-Spot, du und ich. Was sagst du dazu?“
Was wohl?
„Sandra!“, rufe ich, „dreimal Kaffee und Käsekuchen!“