Markus Rabenstein - Spontane Rede (Antirassismusaktion - 'Vor allem anderen bin ich Mensch')

Spontane Rede

Im Schrank neben den Lehrmaterialien stand eine Schachtel voller Kärtchen. Darauf waren Probleme der Welt notiert. Gesellschaftliches und politisches, versammelt in einem blauen Pappkarton. Es waren auch persönliche Begriffe darin. Geheimer Stoff, von dem sonst keiner wusste. Ein Wort alleine für sich verriet nichts.
Doch am nächsten Tag stand in der Schule Freie Rede auf dem Programm. Vielleicht wären einige Kärtchen dafür geeignet. Dann brauchten auch keine neuen geschrieben zu werden.

Niemand mochte gern frei vor der Klasse sprechen. Bei den Schülern der zehnten Klasse war das unbeliebter als Referate halten. Denn es gab keine Vorbereitungszeit. Herr Eden breitete Kärtchen aus einer Schachtel auf einem Tisch aus. Dann sollten sich alle eine nehmen. Es gab keine Regeln dafür und auch nicht für die Rede. Einfach frei sprechen.

Tische wurden nervös über den Boden geschoben. Jeder sollte eine Minute Redezeit füllen.
Sina startete mit dem Begriff „Klimawandel“.  Vermutlich sahen alle, wie sehr ihre Hände zitterten. Dann erzählte sie einfach. Davon dass E-Bikes aus diesen und jenen Gründen gut für die Umwelt wären und man damit außerdem fit bliebe. Sie selbst habe keins, aber ihre Eltern. Nach 40 Sekunden fiel ihr nichts mehr ein. Die Zeit bis zur vollen Minute kam ihr elendig lang vor.

Herr Eden dankte ihr, dass sie angefangen und immerhin mehr als die Hälfte der Zeit gefüllt hatte.

Dann war Ziad dran. Er hatte sich „Ausländerfeindlichkeit“ genommen und berichtete, dass er in Deutschland geboren wurde. Und zu Hause sprachen sie selten von Syrien „Das ist wo meine Eltern herkommen“. Es habe ihm einen Stich ins Herz versetzt, als sie auf der Straße als „dreckiges Ausländerpack“ beschimpft worden waren. Bestimmt konnte jeder sehen, dass er nun schlucken musste.  
„Ausländerfeindlichkeit ist nicht korrekt“ beendete er seine Rede.

Herr Eden hatte während Ziads Vortrag die Stimmung in der Klasse beobachtet. Bevor die Stille die anderen zu sehr erfasste, dankte er auch Ziad für seine Rede und erklärte, dass am Ende ein gesammeltes Feedback und Kritik in der Klassengemeinschaft gebe.
Es folgten kurze Ausführungen unter anderem zu Gewalt und Antisemitismus. Einige brachten Vergleiche oder Beispiele aus dem Fernsehen oder dem Internet ein.

Emma hatte „Schönheitsideal“ gewählt.
Ein Schönheitsideal sei wahrscheinlich Ansichtssache, meinte sie. Es könne aber auch Druck machen, immer gut aussehen zu wollen. Als einmal über den Schulhof „fette Sau“ gerufen worden war, habe es ihr die Kehle zugeschnürt, weil sie kurz dachte, dass sie gemeint war.
Für diese Aussage erntete sie überraschende Blicke, insbesondere von den anderen Mädchen. Darüber war sie selbst wiederum verdutzt und beschloss kurzerhand, ihr Gewicht und die Selbstwahrnehmung zu überdenken. Das sagte sie aber nicht. Sie schloss ihre Rede.
„Für seinen Körper sollte sich niemand schämen“ meinte damit aber auch irgendwie sich selbst.

Bei der Wahl eines Begriffs hatte Lukas spontane Assoziationen zum Thema „Ausgrenzung“ und daher die Karte aufgenommen. Das passte zu dem, womit er sich schon lange beschäftigte. Er würde sich nie richtig darauf vorbereiten können. Wenn nicht jetzt, wann dann ….
„Ausgrenzung“ setzte er an. „Wenn ich euch so höre, denke ich, dass Ausgrenzung vielleicht im Kopf beginnt. Im Kopf desjenigen, der etwas sagt oder tut, was andere ausgrenzt. Das ist dann aber auch der Beginn der Ausgrenzung der Person die ausgegrenzt wird. Denn sie hört oder sieht etwas. Bei einer Gewalterfahrung fühlt die Person sogar unmittelbar. Sie denkt sie sei falsch, entwickelt Ängste, psychische Probleme oder so. Am Ende fühlt sie sich ausgegrenzt oder meidet Situationen und grenzt sich wiederum damit aus.“   
Lukas machte eine kurze Pause.
„Als ich klein war, hörte ich so Wörter wie schwul und Schwuchtel ohne die Bedeutung wirklich zu kennen. Ich habe sie auch selbst benutzt, es einfach so zu anderen gesagt. Vielleicht habe ich damit jemanden ausgegrenzt.
Ausgrenzung beginnt im Kopf. Denkt da mal drüber nach.
Ich bin homosexuell.
Denkt da auch drüber nach. Ich habe es schon zu lange getan, in meinem Kopf. Aber ich will mich nicht mehr ausgrenzen. Ich will teilnehmen und will sein wie ich bin. Und jetzt hoffe ich, ihr grenzt mich jetzt nicht aus.“
Vereinzelt Applaus, viele erstaunte Gesichter.

Es kamen unter anderem noch Tina mit dem Thema Inklusion und Elias mit dem Thema Hass an die Reihe.
„Dann ist ja alles gut“ sagte Cedric, als alle durch waren. „Was uns fehlt, ist jetzt noch eine Transe“ Niemand lachte.  

Es fiel auf, dass Herr Eden die Vorträge nicht beendete. Es schwiegen aber sowieso alle. Er hatte die ganze Zeit keine Kritik geübt. Das stand noch aus.
Nun erhob er sich.
„Es war eine gute Stunde“ sagte er und fügte hinzu „Genau das“ und starrte nachdenklich in seine Tasche. Wie in Zeitlupe sammelte er die Kärtchen ein.
 
„Genau das“ …. dachte sie bei sich weiter.
Sie griff nach den abgelegten Kärtchen. Ja, dachte sie. Genau das was ihr sagtet. So geht es mir. Es tut weh, es brennt mir auf der Seele. Manchmal schnürt es mir die Kehle zu. Er versetzt mir Stiche in meinem Herzen. Es fühlt sich falsch an. Ich fühle mich falsch an.
Ihr seid so mutig!  
Wahrscheinlich beginnt und endet das alles in meinem Kopf…. Aber wie könnte ich jemals ….
Sie schaute in ihre Lehrertasche. Dort lag die Karte „Transsexualität“. Sie legte die anderen Kärtchen wieder darüber.

Und Herr Eden verließ den Klassenraum.
 

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