Maryam Breßler - Maryam Breßler, 15 Jahre, Berlin Die Stille – Eine Begegnung
Maryam Breßler, 15 Jahre, Berlin
Die Stille – Eine Begegnung
Corona-Lockdown, 2021:
Mir war genau bewusst, dass die Frau mich anstarrte. Ein höchst nervtötendes Gefühl. Allerdings konnte ich ihr auch nicht verübeln, dass sie etwas suchte, mit dem sie sich beschäftigen konnte. Das Zahnarztpraxis-Wartezimmer, in dem wir uns befanden, gab in der Tat (abgesehen von ein paar Magazinen, die typischerweise an solchen Orten liegen und über deren Inhalt ich mich lieber vornehm ausschweigen möchte) nichts her, was näherer Beachtung wert gewesen wäre. Dazu kam, dass wir alleine in dem Raum saßen. Es war recht spät und die Praxis wollte bald schließen, daher war das auch nicht weiter verwunderlich (zumal die aktuelle Situation dabei auch noch eine gewisse Rolle spielte).
Trotzdem es also gute Gründe für dieses leicht unhöfliche Verhalten gab, fühlte ich mich dabei tendenziell nicht so recht wohl. Darum überlegte ich, was ich dagegen unternehmen konnte.
Aushalten wollte ich es nicht, darauf ansprechen konnte ich sie wohl schlecht. Aber – fiel mir ein – überhaupt ansprechen, das konnte ich sie. Und warum auch nicht? Das Problem löste es zumindest, denn es ist nicht gut möglich, jemanden anzustarren und sich zeitgleich mit ihm zu unterhalten, denn das Starren ist ein Ausdruck mangelnder Konzentration auf die Wahrung der sozialen Formen. Kommt es zu einem Gespräch, so ist sich der Geist bewusst, dass er diese Konzentration nun braucht, und das Phänomen stellt sich ein.
Nach kurzer Überlegung beschloss ich daher, dass die Konversation mit einer fremden Frau ein geringer Preis für meine innere Ruhe war, die sich durch die beschriebene Situation empfindlich getroffen fühlte, begrüßte die Frau und stellte mich vor.
„Angenehm“, antwortete diese. „Ich bin die Stille.“
„Wirklich?“, fragte ich interessiert. „Die Stille-Stille? Wie kann es sein, dass Sie, als die Stille, sprechen können? Ich meine, normalerweise bezeichnet man ja etwas als still, das kein Geräusch von sich gibt. Müsste das hier nicht völlig unmöglich sein?“
Die Stille musste lächeln. „Na, unmöglich kann es schon mal nicht sein, denn Sie können mich hören. Für unser Ge-spräch könnte es durchaus logische Erklärungen geben. Vielleicht bringt die hier vorherrschende Stille Sie ja dazu, es sich einzubilden. Aber wenn sie das tut, spricht die Stille dann nicht auch irgendwie mit Ihnen? Mal was anderes. Ich muss sagen, dass ich echt froh bin, dass Sie sich eine Definition für das Wort Stille überlegt haben, die über ‚kein Lärm‘ hinausgeht. Furchtbar, diese Beschreibung! Die Stille, also ich, ist mehr als nur das Gegenteil von etwas. Die Behauptung, es sei anders, ist absurd. Sie erinnert mich unweiger-lich an diesen einen Roman ‚1984‘, in dem die Bevölkerung nur Neusprech sprechen soll. Dabei kommen dann Sätze heraus wie: ‚Das ist doppelplusungut!‘ Es heißt: ‚Das ist grottenschlecht, verdammte Axt nochmal!‘ Und genauso ist es, wenn es still ist, nicht einfach nur unlaut. Das versteht nur keiner.“
„Das muss sehr frustrierend für Sie sein. Wie würden Sie denn Stille definieren?“
„Ich selbst mich definieren? Sie bringen mich da aber in eine schwierige Lage. Ich will ja auch nicht arrogant wirken, verstehen Sie? Ich muss kurz nachdenken.“
Die Stille tat das. „Also ich glaube, Ihre Definition klingt an sich logisch, trifft aber für mein Empfinden den Nagel nicht ganz richtig auf den Kopf, rutscht eher so an der Seite ab, möchte ich meinen. Per se kann die Stille meiner Meinung nach nicht die Abwesenheit von Geräuschen beschreiben, weil sie selbst ein Geräusch ist. Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie nähmen eine Tonspur auf, auf der sich nur Stille befindet, also zum Beispiel Frequenzen, die außerhalb Ihres Wahrnehmungsspektrums liegen. Das ist für Menschen nämlich Stille. Danach hören Sie sie an. Was hören Sie?“
„Stille.“
„Genau, Sie hören Stille. Und was man hören kann, ist auch ein Geräusch, nicht wahr?“
Eventuell gebrauchte die Stille hier den Begriff ‚hören‘ nicht im eigentlichen Sinne, aber ich beschloss, den Punkt trotzdem gelten zu lassen. Dennoch, ich hatte noch eine weitere Frage: „Mag sein. Aber welchen Unterschied macht es, wenn man sagt, Sie seien ein Geräusch?“
„Ist das nicht selbsterklärend? Denken Sie nur an das Beispiel mit der Audioaufnahme! Sie haben eine Spur mit Stille. Wenn Sie noch eine Spur aufnehmen, zum Beispiel das Hupen eines Lkws, diese Spuren übereinanderlegen und sie gleichzeitig abspielen, ist die Stille dann noch da?“
„Ja.“
„Wenn in Ihrer Definition ein Geräusch ertönt, ist die Stille noch da?“
„Nein, weil die Stille in diesem Fall der geräuschlose Zustand wäre.“
„Richtig.“
„Sie wollen damit also sagen, dass die Stille immer da ist. Ein Ton, der immer klingt. Der vierte Ton im Dreiklang und der Teppich, über den der Schall wandert“, sagte ich, weil es die Krankheit vieler Schriftsteller ist, alles durch Metaphern und sonstigen lyrischen Zierrat zu beschreiben.
„Korrekt.“
Ich überlegte, was ich noch fragen sollte. Man hat so selten Gelegenheit, mit der Stille zu sprechen. Tatsächlich fiel mir auch etwas ein. „Wie lebt es sich als Stille?“
„Tja“, antwortete die Stille, „gerade bin ich, wie es scheint, nicht sonderlich beliebt. Die Menschen schimpfen viel auf die Stille, viele finden mich unangenehm und wollen mich überbrücken.“
„Vielleicht tun sie das, weil Ihre Gesellschaft ihnen momentan aufgezwungen wird.“
„Mag sein. Grundsätzlich finde ich mich nämlich gar nicht schlecht. Ich biete den Menschen den Raum, sich und ihre Gedanken frei zu entfalten. In meinem Haus ohne Hektik sind im Laufe der Jahrhunderte viele Philosophen, Autoren und Menschen, die ihr Leben überdenken wollten, eingekehrt. Weil ich sie in Ruhe lasse und sie mich nicht wahrnehmen. In der Einsamkeit liegt der Friede. Auch Sie waren schon oft bei mir.“
„Wirklich?“
„Durchaus. Haben Sie sich nie gefragt, warum Ihnen gute Ideen vor allem abends einfallen, wenn Sie schlafen wollen?“
„Doch, häufig.“
„Es liegt daran, dass Sie nicht von hunderttausend anderen Dingen abgelenkt werden. Sie können sich besser konzentrieren.“
„Stimmt! Meine besten Werke habe ich also bei Ihnen verfasst?“
Zum zweiten Mal lächelte die Stille. „Ich verschicke Einladungen, aber kommen muss jeder. Man kann sich entscheiden, ob man die Zeit bei mir nutzen will oder sich über mich ärgert.“
In diesem Moment platzte die Sprechstundenhilfe ins Gespräch und teilte mir mit, dass ich dran sei, meine Zähne überprüfen zu lassen. Ich verabschiedete mich von der Stille und betrat den Behandlungsraum. Meine Gedanken verweilten noch bei der Stille. Man mag über die Stille sagen was man will, beschloss ich, aber dass sie eine gute Gastgeberin ist, kann man nicht leugnen.