Mehr als eine Sprachnachricht . Nachwort von Alfred Büngen zu 'Buntglasschatten'

Mehr als eine Sprachnachricht
Alfred Büngen, Verlagsleiter

Es gibt sie noch – die schreibenden Jugendlichen, viele mehr vielleicht, als uns Medien, Wirtschaft und auch Bil-dungspolitik glauben lassen wollen. Zuletzt musste ich mich in einer Diskussion mit ‚Internetdemokraten‘ doch tatsächlich verteidigen für meine Aussage, dass Schreiben vielleicht eine unerlässliche Tugend sei, eine Vorbedingung des Denkens. Wozu Schreiben denn noch einen Sinn hätte, wurde mir erwidert, es gäbe doch Sprachnachrichten und künstliche Intelligenz. Und überhaupt, Bücher seien über-flüssig, da ohnehin niemand mehr sie lesen würde. Nun, dem kann man entgegenhalten, Bücher halten die Gedan-ken von Menschen langfristig fest gegenüber dem zumeist nur reflexartigen, kurzfristigen Schreiben in den sozialen Medien. Das Schreiben eines literarischen Textes für ein Buch ist zugleich Denken, Reflexion des Geschriebenen, denn bis zur Veröffentlichung folgen ja noch weitere Schritte. Das wiederholte Lesen und Sprechen über den Text, das auch zeitlich verzögerte, damit auch mit dem eigenen wachsenden Bewusstsein reflektierende Textverständnis. Aufschreiben in ein Buch ist somit Denkschreiben und kein Reaktionsschreiben des Internets oder auch Wissensabfrageschreiben von Schule, ja, ist so etwas wie die besondere Metaebene des Schreibens.
Nun, ich werde demnächst neben dem theoretischen Ansatz ein gutes praktisches Argument bei solchen Diskussionen haben, dieses Buch. Ohne solche Bücher werden wir andere Menschen, vor allem junge Menschen, heute kaum noch verstehen. Junge Menschen, die ein Feuerwerk der Sprache entfachen, mit Bildlichkeiten neue Sichtweisen auf Welt vermitteln, auf ein Miteinander. Keine Sorge, diese schreibenden Jugendlichen sind keine weltfremden ‚brillenbewehrten‘ Wesen, die sich täglich in ein Buch vergra-ben, diese Welt gegen Fantasiewelten der Literatur eintauchen. Sie nutzen Internet und Social-Media wie alle anderen Menschen heute, schreiben auf den elektronischen Medien, lesen aus dem Tablet oder anderen Geräten heraus ihre abgespeicherten Texte, lassen sich in ihrem Alltag von Musik und Filmen aus diesen Medien begleiten, telefonieren, schreiben Sprachnachrichten, sind in Facebook-Gruppen und vielem mehr unterwegs. Und dennoch gibt es einen Unterschied. Sie sind nicht nur passiv Konsumierende, ver-suchen sich vielmehr mittels Wort, Bild oder Tönen (zu-meist sind die Schreibenden mehrfach künstlerisch behei-matet) ihre Gefühle und ihre Sichten auf Welt zu erschlie-ßen, Erlebtes zu verarbeiten, Wirklichkeiten für sich (und manchmal auch für andere) verstehbar zu machen. Wenn es denn diese Wirklichkeiten noch gibt für sie. Doch dazu später.
Das Wunderbare dabei ist, dass wir in diesem Buch neun Schreiber*innen haben, die ihren jeweils ganz individuellen Weg des Schreibens gefunden haben in Bezug auf Form und Inhalt des Schreibens. Sie haben in ersten Ansätzen ganz individuell trotz ihres jungen Alters zu ihrer jeweiligen Sprache gefunden. Gleichwohl lassen sich, dies soll im Folgenden versucht sein, bei allen Unterschiedlichkeiten Gemeinsamkeiten in ihrem Schreiben herausfiltern, die sie wiederum von vorhergehenden Generationen von Schreibwerkstätten in diesem Gymnasium und auch darüber hinaus unterscheiden. Ja, mir scheint, dass diese schreibenden Jugendlichen etwas ausdrücken, was vielleicht Grundtendenzen einer jungen Generation nach ‚Fridays for Future‘ sind.
„Wo geht es nur mit uns hin?” (S. 7.), fragt Lina Weigel in ihrem einleitenden Text, beschreibt dabei wunderbar bild-lich, dass Kopf und Finger in dieser Auseinandersetzung mit der Welt beinahe nicht mehr mitkommen. Und Lara L. J. Robbers sieht ihr lyrisches Ich als eine Festung an, an der sie lange gebaut hat. „Ich habe lange Zeit damit verbracht, diese Festung zu werden / Jetzt, wo ich keine mehr sein muss, weiß ich nicht, / wie ich die Mauern wieder einreißen kann“(S. 13). Eine ähnliche Wendung des lyrischen Ichs bei Inga Hagemann als Gefangene in der eigenen Woh-nung. (S. 12)
Aleyna Köybasi hinterfragt in ihrem einleitenden Text „Vo-gelfrei“ den Sinn der Welten ihrer Protagonistin, die sie rational nicht erkennen kann, sie weiß keine Antworten. In einer Begegnung mit dem „natürlichen“ Verhalten ihres Katers, der auf die Klaviertasten springt, findet sie jedoch Sinnhaftigkeit. „Mehrere Minuten sitze ich einfach da und folge meinen Händen, die mehr führen als mein Kopf. Sie wissen genau, wo es langgeht, anders als ich.“ (S. 16) Künst-lerische Ästhetik als individueller Versuch der Überwin-dung einer sinnentleerten Welt, die keine rationalen Erklä-rungsmuster mehr bietet? Ist das gewählte Farbenspiel als ästhetisches Gliederungsprinzip eines Buches kein Zufall? Ist es eine Abkehr von der Wirklichkeit Welt? Vorgängergruppen unserer Schreibwerkstätten wählten eher Strukturprinzipien realer Welt.
Despoina Aisin Kelertzi zeigt uns ein Verhältnis zur Welt, konkreter, zur Zeit, das Ängste ausdrückt, kann sie dieser Zeit, dieser Welt doch nicht entrinnen. „Und trotzdem sehe ich, wie sie sich ganz natürlich über mich wie Wasser auf Satin verbreitet und mich bedrohlich umrundet, um-schlingt und gleichzeitig wie meine beste Freundin um-armt.“(S. 19) „Nur Träume bleiben“, meint Neo Götting, denn „auf Visionssuche zerschellt sein Herz;“ (S. 20) Und für Amanda Wurm sind die Fülle der Eindrücke der Welt kaum noch einzuordnen. „Drei Wochen“ erlebt sie „in einem Tag.“ (S. 18) Tilda Kolhoff führt in ihren wunderbar satirischen Beiträgen die Welt in ihrer Absurdität vor, da sie dem Protagonisten allenfalls banale Lebensweisheiten ermöglicht (Beste Zeit).
Aleyna Köybasi kommt anhand einer kleinen Beobachtung einer Alltagssituation auf den Rückschluss, was das Gestal-tungsprinzip der Welt ist: „Der Mensch will gelobt werden. Er will sich beweisen. Er will sich über alle anderen stellen und am besten wäre es, wenn man ihn angöttert.“ (S. 22) Sehr viel bleibt da von Hoffnung auf positive Gestaltungsprinzipien der Realität, der Wirklichkeit nicht zu erwarten.
In unterschiedlichen Formen verweigern die jungen Au-tor*innen den Protagonisten ihrer Gedichte und Erzählun-gen den Zugriff dieser so gearteten Welt auf ihr Ich. „Ich will nicht das sein, was du aus mir machst“ (Lina Weigel, S. 30). „Dass Ich auf der einen / Du auf der anderen“ (Despoi-na Aisin Kelertzi, S. 31). Wie Daidalos „Durch den Nachthimmel, / weit wegfliegen“ (Dora M. Drescher, S. 53). „Oben, hoch oben, setze ich mich auf einen Baum. Ich bin frei; niemand kommt an mich ran.“ (Amanda Wurm, S. 59) „Ich fühle mich manchmal wie in einer Sanduhr / Eingesperrt. Sandkörnchen im Glas.“ (Despoina Aisin Kelertzi, S. 132)
Noch eine Vielzahl von Aussagen könnte man hier finden, die eine deutlich wahrnehmbare Kluft zwischen realer Welt und Individuum beschreiben. Sicherlich ist dies gerade für jugendliche Autor*innen, für Jugendliche grundsätz-lich, etwas Normales. Das Aufbegehren der Jugend in den verschiedensten Facetten kann immer wieder beschrieben werden, bestimmte auch immer wieder das jugendliche Schreiben. Nun scheint jedoch ein neuer Schritt zu passieren. Mir scheint es beinahe eine Trennung von den ‚gesell-schaftlichen‘ Grundprinzipien der Welt hin zu den ‚Klein-heiten‘ dieser Welt, die für sie Bedeutung haben, den jungen Autor*innen Emotionen, Wertigkeiten ermöglichen. Dora M. Drescher beschreibt es: „Denn genau dieses Schätzen der kleinen Dinge im Leben ist das, was einen glücklich macht.“ (S. 128) Und Lina Weigel äußert sich dazu wunderbar bild-lich: „Während die Welt fast steht / Und wir ihre Umdre-hungen einholen“ (Lina Weigel, S. 123).
Sollte angesichts der Vielfalt der Problemstellungen von Welt, der täglichen Konfrontation mit der Ganzheit von Welt, mit dem Großen, sich der Wunsch nach Geborgenheit im Kleinen stärker ausbilden, auch das Genießen des Füh-lens im Kleinen? „Ich habe es satt, die Werte der anderen zu übernehmen“, ist Amanda Wurms Antwort (S. 50).
Zahlreiche Texte zeichnen die Wichtigkeit, die Freude (aber auch den Schmerz) der individuellen Beziehung zu einzel-nen anderen Menschen als Kleinheit der Welt auf. „Sieh nur, was du mit mir machst. / Schenkst mir Kaminbilder in kal-ten Nächten.“ (Inga Hagemann, S. 114) „Doch du warst ein Abenteuer / In dem ich mich zu gerne verloren habe“ (Lara L. J. Robbers, S. 108). „In deinem Lächeln sehe ich / die Träume kleiner Kinder, / die jetzt gewachsen sind.“ (Despoina Aisin Kelertzi, S. 106) Es ist auch die Geborgenheit zu Orten, zu alten Menschen (wie eines der sprachlich schöns-ten Gedichte des Bandes von Lina Weigel, wo sie der Erin-nerung an die Großmutter bewusst die traditionelle Rechtschreibung ‚Naßwetter‘ widmet). Auch die Geborgenheit in der Natur wird in einer Vielzahl von Beiträgen beschrieben. Amanda Wurm verdeutlicht es: „Ich bin besonders, ich spüre Bäume, / ihre Energie teilen sie mit mir“ (S. 29).
Es ist eine neue Generation, die intensiv auf der Suche nach radikaler Individualität sich selber sucht. „Ich bin ich, weil ich ich sein muss.“ (Lara L. J. Robbers, S. 60)
Doch Lina Weigel und auch die anderen Autor*innen begrenzen zugleich die zu große Hoffnung, sich in der Persön-lichkeit des anderen zu finden. „Egal, wie sehr ich es versuche, ich werde dich niemals so gut wie mich selbst kennen. Ich werde dich niemals komplett verstehen können. Wie auch ein Kunstwerk nur vom Maler selbst in seiner Gänze erfasst werden kann.“ (Lina Weigel, S. 67)
So bleiben die jungen Autor*innen, zeichnet dies vielleicht aber auch eine ganze Generation aus, der die Erwachsenen eine Welt mit Corona, zerstörter Umwelt und Krieg hinterlassen, in dem Versuch, eigene, individuelle Werte zu fin-den. Ob es gelingen kann? „Blau sowie Rot wie auch Gelb / Überschlagen / Sich die Töne / Meine Finger kommen meinem Kopf nicht hinterher / Und mein Körper schon gar nicht“. (Lina Weigel, S. 7)
Wir müssen ihnen dabei zuhören, sie im Gespräch, in der Suche unterstützen, dürfen sie nicht allein lassen in ihrer Abkehr von Welt, die auch ihre Welt sein wird und von ihnen in Zukunft gestaltet werden muss. Bücher müssen ihnen Sprachrohr werden im Ausdruck ihres Wollens.
Danke, dass ihr ein solches Sprachrohr geschaffen habt, das mir hilft, euer Denken, eure Gefühle besser zu verstehen.