Monika Gib, Unsterblich

Monika Gib, 18 Jahre, Goldenstedt
Unsterblich

Der Regen prasselte auf sie nieder. Ihre Schuhe dreckig vom Schlamm, durch den sie gingen. Onyx zog die Kapuze seines Umhangs tiefer ins Gesicht.
„Wir sollten uns einen Platz zum Ausruhen suchen.“
Silvius nickte, seine blonden Haare hingen ihm in nassen Strähnen ins Gesicht.
„Ich bin müde, am besten schlagen wir gleich ein Lager auf. Es wird sowieso nicht mehr lange dauern, bis es dunkel wird.“
Sie gingen noch ein Stück, auf der Suche nach einem trockenen Ort zum Übernachten, als Silvius eine Höhle entdeckte. Onyx wrang seinen nassen Umhang auf den Höhlenboden aus, während Silvius versuchte, mit einem Messer, einem Feuerstein, Stöcken und ein paar Fellen ein Feuer zu entfachen. Eine Weile beobachtete Onyx die kläglichen Versuche seines Freundes, dann hockte er sich neben ihn.
„Lass es mich versuchen.“
Er nahm ihm das Messer und den Feuerstein aus der Hand. Kräftig schlug er sie aneinander, seine Hände zittrig von der Kälte, als das Messer abrutschte und ihm in die Handfläche schnitt. Mit einem Fluch ließ Onyx Stein und Klinge fallen und betrachtete die Wunde auf seiner Handfläche. Er spürte eine bekannte Wärme, und im nächsten Moment zogen sich die Ränder der Wunde zusammen, und nur noch das übrig gebliebene Blut auf seiner Hand zeugte von seinem Missge-schick.
„Bist du okay?“, fragte Silvius. Onyx nickte und fing wieder an, das Messer gegen den Stein zu schlagen.
„Nur ein Kratzer.“
Endlich funkte es, und die Felle begannen zu brennen. Er-leichtert ließ Onyx sich auf den kalten Boden fallen. Silvius kramte in seiner Tasche und reichte ihm ein Stück Brot. Sie aßen in Stille, nur das Knacken des Feuers zwischen ihnen, bis Silvius seine Hände zum Feuer ausstreckte und das Wort ergriff.
„Bist du nie einsam?“
Überrascht von der plötzlichen frage sah Onyx zu seinem Freund.
„Was?“
„Das ewige Leben, ist es nicht einsam? Du hast mir gesagt, du würdest immer alleine wandern, immer auf der Flucht, in der Hoffnung, vergessen zu werden, aber ist es nicht ein-sam? Willst du nicht mal deine Wurzeln schlagen und den Baum blühen lassen? Auch wenn es nur für eine Weile ist?“
Einen Moment starrte Onyx ihn einfach nur an, dann fing er sich wieder.
„In meinem Fall ist vergessen zu werden ein Segen. Ein unsterbliches Wesen wie ich sollte nicht erinnert werden. Ganz besonders nicht für das Blut, das es an den Händen hat. Ich werde meine Wurzeln niederschlagen, wenn ich tot bin, Silvius.“
„Also niemals?“
„Ich bezweifle, dass ich diese Möglichkeit jemals haben werde, aber auch ich, mein Freund, kann nicht in die Zukunft schauen.“
Onyx stupste ihn an.
„Aber gerade bin ich nicht allein, nicht wahr?“
Silvius nickte abwesend, das Feuer ließ seine Augen leuch-ten.
„Wie glaubst du wird sie sein, die Zukunft?“, fragte er.
Onyx musterte ihn. Er hatte die Stirn gerunzelt und sah ins Feuer. Silvius war jung und doch älter als jeder andere Acht-zehnjährige, den er je getroffen hatte. Seine Sorgen hatten ihm Falten auf die Stirn getrieben und Kriege Narben auf seine Hände. Er war gefährlich und doch fürsorglich. Unge-duldig und doch rücksichtsvoll. Manchmal wünschte Onyx sich, er wäre mehr wie er.
„Ich weiß es nicht,“ sagte er nach einer langen Pause, „die Zukunft ist unsicher und voller Variablen.“
Silvius blaue Augen richteten sich auf ihn.
„Hast du Angst vor ihr?“
„Manchmal. Ein unsterbliches Leben kann man nicht wirklich Leben nennen. Ich glaube da kommt ein Punkt, da hat man alles getan, was man auf dieser Erde tun musste. Alles, was danach kommt, sind Ergänzungen. Ich habe nichts mehr zu tun, außer diesen ewigen Kreislauf aus Leben und Tod zu beobachten, der euch Menschen zu Menschen macht. Der Unterschied zwischen mir und dir ist, dass du irgendwann dein Buch schließen wirst. Deine Geschichte wird beendet sein. Doch ich“, Onyx warf einen Stock ins Feuer, „werde dir nie folgen, mein Freund. Also mach deine Zukunft zu einer guten, und wenn es an der Zeit ist, deine Geschichte zu beenden, sorg dafür, dass du alles getan hast, was du tun musstest.“
„Onyx, ich …“, fing Silvius an, doch Onyx unterbrach ihn.
„Du solltest schlafen gehen, wir haben eine lange Reise vor uns.“
Silvius nickte, was auch immer er sagen wollte für immer ungesagt. Er legte sich auf den Boden und als Onyx eine Melodie summte, die beide schon so gut kannten, schlief er ein.