Nina Tröger - Montecito

Montecito

Nicht nur der Nationalstaat, in dem wir geboren und sozialisiert werden, prägt unsere Identität. Sie hat zudem irrwitzig viel mit unserer unmittelbaren Erziehung und der Familie zu tun. Mit Eltern, Geschwistern, Freund*innen und all den anderen Menschen, die für immer bleiben oder an die wir uns später nicht mehr erinnern. Oder nicht erinnern wollen. Du fragst Dich beim 25-jährigen Klassentreffen, wer der gut aussehende Typ da drüben am Tresen ist, mit dem sich Deine ehemalige beste Freundin gerade unterhält, feststellend, dass Du ebendiesen Typen in der Neunten jäh verschmähtest, warum auch immer, Du hast absolut keine Ahnung. Plötzlich ist Dir klar, dass Du Dir in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder Partner*innen ausgesucht hast, die diesem verschmähten Typen auf geheimnisvolle Weise ähneln. Und während Du darüber fantasierst, ob Du bei der nächsten Partnerwahl vielleicht doch mal etwas anders machen solltest, geschehen ganz reale Dinge wie beispielsweise ein toter Vater.
Oh! Wie gehste denn jetzt damit um? Kannste ja vorher nicht üben. Ist ja der erste Vater, der jetzt tot ist, und das bleibt auch so. Du musst irgendwie damit umgehen. Was immer auch in der Vergangenheit geschah. Bestes Eltern-Kind-Verhältnis oder dreißig Jahre nicht gesehen. Da kommst Du nicht raus. Es hat immer was mit Dir zu tun. Immer. Und wenn am Ende nur die Erkenntnis wächst, dass diese Sache mit dem Sterben wirklich passiert. Und zwar ganz sicher irgendwann auch Dir.
Sterben ist eine Thronfolge. Wenn jemand über Dir abdankt, rutschst Du hoch. Ich befinde mich auf einem sehr komfortablen vierten Platz.*  Durcheinandergeraten kann da natürlich immer was. Aber momentan: gesunde Mitteldistanz. Wie Prinz Harry. Nah dran an den Vorteilen, weit weg von den Nachteilen. Harry ist vor den Nachteilen ins kalifornische Montecito geflüchtet. In meinem Fall wäre das nicht sehr hilfreich. Der Gevatter kann auch Übersee. Und Deine Vergangenheit, die hast Du hier wie dort an der Backe.


 *Auf den Plätzen eins bis drei: meine Mutter und meine beiden Brüder. Letztere sind nicht nur früher geboren, als Männer leben sie statistisch gesehen auch kürzer als ich. Ich werde also wahrscheinlich ein bisschen später sterben als sie. Was allerdings absolut betrachtet weder mein Leben verlängert noch deren Leben verkürzt. Das ist sowohl in die eine als auch in die andere Richtung auf eine gewisse Art beruhigend. Viele denken ja, dass es ihnen selbst schlecht geht, weil es jemand anderem besser geht. Oder umgekehrt. Aber das ist eine optische Täuschung.