Olaf Bröcker rezensiert Marny Münnichs 'Mondstillleben'

Wer ist Rachel? Und wer bin ich?
Mondstillleben heißt das Romandebüt von Marny Münnich. Es enthält 39 Kapitel, die einzelne Momente im Leben zweier Menschen vorüberziehen lassen, wobei trotzdem eine erkennbar sich entwickelnde Handlung entsteht.
Die beeinträchtigte Ich-Erzählerin – man stellt sich von Beginn an eine Frau vor, muss aber nach Belegen suchen – lebt bei der älteren Rachel, die die Fürsorge für sie übernommen hat. Die Informationen über das rechtliche Verhältnis der beiden kommen allerdings tröpfchenweise und sind auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist, wie Rachel auf die Ich-Erzählerin eingeht: „Sie hält mich nicht fest. Aber ich fühle mich festgehalten“, beschreibt die Protagonistin ihr Gefühl. Oder: „Rachel zieht mich nicht heran an sich. Aber sie weicht auch nicht von meiner Seite.“ Die Autorin beschreibt eine sehr einfühlsame Rachel, die es schafft, ihrem Mitmenschen ein Gefühl der Nähe zu geben, ohne sie einzuengen. Wer ist diese Rachel? Aber die Frage wird bald abgelöst von der Überlegung: Kenne ich eine solche Rachel? Oder könnte ich es selbst sein? Während sich der körperliche Zustand der Ich-Erzählerin schubweise verschlechtert, gewinnt sie kontinuierlich an Selbstsicherheit und damit auch an Handlungsfreiheit. Woran sie leidet, erfahren wir – mit einer Ausnahme zu Ende hin – nie konkret, aber nachfühlen können wir es durchgehend.
Der Psychotherapeutin Münnich gelingt es literarisch, über scheinbar unverbundene Kapitel eine Art Hoffnung aufzubauen, die der Leser mit der Protagonistin erlebt. Sie erläutert literarisch, dass eine Beziehung wie diese schon Therapie darstellt. Eine sehr wertvolle Therapie! Und dennoch fehlt der berüchtigte erhobene Zeigefinger völlig; wir erleben die Beeinträchtigung der Protagonistin fiktional.
Dabei ist der Stil durchgehend zugänglich, was bei diesem Thema und der Herangehensweise der Autorin keine geringe Leistung darstellt. Trotz der sehr individuellen Sprache mit den meist kurzen Sätzen gelingt der Zugang zur Erzählerin unmittelbar, verstehe ich ihre Anspielungen auf Krokodile und Förster wie auf Beethoven genauso plötzlich, wie sie auftauchen. Rachel schlägt vor, in den Wald zu gehen, um sich über die Natur zu wundern? Also eine „Naturwunderung“. Natürlich! Die Neologismen dieser Art bleiben unaufdringlich, weil sie nicht glänzen wollen, sondern sich aus der Psyche der Protagonistin ergeben.
Ich wollte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Aber ich musste. Die Beschreibung des Innenlebens der Erzählerin wie auch der Beziehung der beiden Menschen ist so dicht, dass ich nach einigen Kapiteln erst einmal nachdenken, nachfühlen musste und dadurch das Lesen vergaß. Die gezeigte „Grundtherapie“ durch liebende Fürsorge erzeugt immanent den Wunsch, selbst eine Rachel zu sein und das zu leisten, was sie leistet.
Eines der besten Bücher, die der Geest-Verlag je herausgebracht hat!

Marny Münnich
Mondstillleben
Roman
Geest-Verlag, Visbek 2025
12,50 Euro