Olivia Lorenz -Gespräch mit Ana - Essen verdienen

Olivia Lorenz
An dem Tag, als ich entschieden habe, meine Essstörung, genannt Ana, vollkommen loszulassen, habe ich folgenden Dialog zwischen ihr und mir geschrieben. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten Ana und ich nicht nur gemeinsam in einem Körper, wir teilten uns ein Leben, mei-ne Freunde und meine Familie.


Gespräch mit Ana – Essen verdienen

Ich: Hey, Ana, darf ich dich mal was fragen?
Ana: Klar, schieß los.
I: Das ist ja nett, dass du heute mal mit dir reden lässt. Wa-rum muss ich mir mein Essen verdienen?
A: Weil du es sonst nicht wert bist. Du wirst beschimpft und bekommst Ärger, wenn du mehr isst, als du dir verdient hast oder einfach so isst, ohne es dir verdient zu haben.
I: Okay. Wie kann ich mir denn mein Essen verdienen?
A: Zum Beispiel, indem du Sport machst, Leistung erbringst, eine unangenehme Aufgabe geschafft und zu Ende gebracht hast, gehungert hast, dich an die Ernährungsregeln gehalten hast oder einen anstrengenden Tag hinter dich gebracht hast.
I: Und warum bekomme ich Ärger, wenn ich mein Essen nicht verdient habe?
A: Weil du dann Gefahr läufst, zu dick zu werden.
I: Und warum wäre es so schlimm, wenn ich zu dick wäre?
A: Wenn du zu dick wärst, würdest du nicht nur Ärger dafür bekommen, dass du dich falsch verhältst, das Falsche oder zu viel oder zur falschen Zeit isst, sondern du würdest auch dauerhaft Ärger dafür bekommen, wie du bist. Nämlich einfach falsch und hässlich. Wenn du so richtig dick und wabbelig wärst, dann dürftest du gar nichts mehr essen. Und wenn, dann überhaupt nur noch ganz kleine Portionen und nur „Gesundes“. Dann müsstest du wahnsinnig doll auf deine Ernährung achten. Das könntest du nicht ertragen. Wenn du so richtig dick wärst, dürftest du dir gar nichts mehr gönnen, dir gar nichts mehr schmecken lassen, müsstest dich noch mehr für dein Essen schämen und erst recht für dein Aussehen. Du müsstest dich die ganze Zeit rechtfertigen.
I: Aber achtest du nicht jetzt schon voll auf mein Essverhalten und auf das Aussehen unseres Körpers?
A: Ja, genau, weil ich schlau bin und der Gefahr, zu dick zu werden, vorbeugen möchte.
I: Verstehe. Das ist ja auch schwierig. Ich glaub, so ein kleines bisschen haben viele Angst davor, zu dick zu werden bezie-hungsweise wären viele zumindest gerne lieber schlank als dick in unserer Gesellschaft.
A: Da hast du recht. Unsere Gesellschaft ist eben so und da musst du dich anpassen, um anerkannt zu werden.
I: Ja, das verstehe ich. Glaubst du, andere Menschen fänden dick sein genauso schlimm wie du?
A: Hm, ich habe zumindest das Gefühl, dass es andere ganz besonders stört, wenn du zu dick bist.
I: Uff. Du meinst, es stört unsere Mitmenschen mehr, wenn unser Körper zu dick ist, als wenn eine fremde Person neben uns zu dick ist?
A: Mmh.
I: Hast du eine Idee, was der Grund dafür sein könnte?
A: Vielleicht weil unser Körper ganz besonders hässlich ist, wenn er dick ist? Vielleicht weil du deine Familie in Mitlei-denschaft ziehst, wenn sie eine dicke Tochter hat? In deiner Familie spielt das Aussehen eine wichtige Rolle und ein großer Teil deiner Familie baut seinen Selbstwert auf der Aner-kennung von außen auf.
I: Verstehe. Und das Problem ist halt auch, dass die Gesellschaft Anerkennung für eine schlanke Figur und ein gutes Aussehen liefert. Diese Anerkennung, die man sich in unserer Gesellschaft durch eine scheinbar perfekte Figur verdienen kann, macht mich manchmal echt wütend und macht auch mir das Zunehmen nicht gerade leicht.
A: Jep. Und dann ist da noch die Sache mit den Sorgen und der Gesundheit. Deine Familie sieht Übergewicht als EXTREM ungesund an. Deswegen sagen sie als Begründung auch, dass sie sich ja nur Sorgen um dich machen, dass du nicht zu dick wirst. Wegen deiner Gesundheit. So wegen Diabetes und erhöhter Wahrscheinlichkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und noch mehr. Denen fallen da tausend Sachen ein. Das heißt, wenn du dick bist, bist du verantwortlich für ihre Sorgen.
I: Ja, von diesem Argument scheint meine Familie fest überzeugt zu sein. Aber zuerst mal: Ich kann nicht „zu dick“ sein. Ich kann höchstens „dick“ sein. Soll ich dir erklären, warum Übergewicht nicht zwingend ein Gesundheitsrisiko ist?
A: Gerne. Ein bisschen weiß ich schon, zum Beispiel Korrelation ungleich Kausalität, also dass Übergewicht zwar mit anderen Gesundheitsrisiken einhergeht, aber nicht sicher gesagt werden kann, dass Übergewicht auch der Auslöser dafür ist. Außerdem wurden die Gesundheitsrisiken von Untergewicht nicht so im Detail erforscht wie die von Übergewicht. Von solchen Untersuchungen würde die Fitnessin-dustrie, die Studien im Bereich Gewicht, Ernährung und Gesundheit zu einem Großteil finanziert, aber nicht profitieren. Die Sterblichkeitsrate bei Untergewicht ist zum Beispiel höher als bei Übergewicht .
I: Oh, das ist gut, dass du das weißt. Ich suche noch mehr raus. Übrigens habe ich mich für meine Genesung entschie-den, weil ich meine natürliche Periode wiederhaben möchte. Sie ist nämlich das Signal dafür, dass mein Körper wieder genug körpereigenes Östrogen produziert. Erst bei ausrei-chender Östrogenzufuhr leiden mein Herz und mein Gehirn nicht weiter unter dem Nährstoff- und Hormonmangel, erst dann verringert sich meine Knochendichte nicht weiter, sondern kann wieder aufbaut werden. Damit mein Körper aus-reichende Hormone produzieren kann, muss genügend Fettmasse vorhanden sein. Deswegen muss ich zunehmen. Ich möchte möglichst lange leben und irgendwann vielleicht sogar Kinder bekommen. Ich habe weniger Angst vor der Gewichtszunahme, wenn ich weiß, dass sie momentan sogar gut für meine Gesundheit ist.
A: Na gut, ein bisschen kann ich das nachvollziehen. Aber was, wenn du über das Ziel hinausschießt? Du willst ein bisschen zunehmen und verlierst völlig die Kontrolle und wirst ganz dick?
I: Davon bin ich noch SEHR weit entfernt.
A: Trotzdem kann es passieren.
I: Ja, aber ich will jetzt nett zu mir sein. Und außerdem: Pas-sieren kann alles. Du kannst auch einen Unfall bauen und auf der Intensivstation landen oder ein Erdbeben erleben, sodass deine ganze Heimat zerstört ist. Aber fährst du aus Angst vor einem Unfall nicht mehr Fahrrad, versteckst du dich aus Angst vor einem Erdbeben ständig unterm Tisch?
A: -.-
I: Nee, oder? Genauso ist es mit dem Zunehmen. Wir können Gefahren nicht verhindern, wenn wir unser Leben leben wol-len. Wir können uns, soweit es uns möglich ist, vor ihnen schützen. Und weil ich mich vor den gesundheitlichen Fol-gen von Untergewicht beziehungsweise einer ausbleiben-den Periode schützen möchte, habe ich mich für die Gene-sung entschieden.
A: Ach ja, stimmt. Und wie schützt du dich möglichst gut vor der Gefahr, zu dick zu werden?
I: Ich bin freundlich zu mir selbst, passe auf mich auf, nehme meine Gefühle ernst. Ich vertraue meinem Körper, dass er mir sagt, wie viel Essen er braucht.
A: Weißt du was? Ich habe dich unendlich doll lieb, egal ob du dick und fett wie ein kuschliger Eisbär oder dünn wie eine Libelle bist. Aber am liebsten mag ich dich, wenn du lachst.
I: Jetzt hast du mich zum Lachen gebracht.
A: Und was machst du, wenn andere Leute, zum Beispiel auch aus deiner Familie, zu dir sagen, dass du zu fett bist oder zu viel Süßes isst?
I: Dann sage ich, dass mir lachen zu können wichtiger ist als einen Körper zu haben, der ihren Ansprüchen genügt. Oder ich frage, was sie mit ihren Kommentaren erreichen wollen, wo sie damit ohnehin nichts als Schaden anrichten!? Außer-dem hat eine Person, die die Liebe zu mir wirklich an mein Aussehen knüpft, meine Liebe im Gegenzug nicht verdient! Ich habe so viele andere wunderbare Menschen um mich herum, die für mich da sind.
A: Hm, okay. Schwierig nachzuvollziehen für mich, aber ich versuche es. Kannst du mir noch mal genau sagen, warum du keine Angst mehr davor hast, zu dick zu werden?
I: Also, ich brauche keine Angst mehr davor zu haben, zu dick zu werden, weil ich
1.)    wenn, dann nur Angst davor haben kann, dick zu werden.
2.)    noch nicht einmal meine Periode wiederhabe.
3.)    wenn ich meine Periode wiederhabe, lernen werde, auf meinen Körper zu hören.
4.)    eine gute Intuition und ein gutes Körpergefühl habe.
5.)    am besten weiß, was gut für meinen Körper und meine Gesundheit ist. Waren die anderen denn ein-mal magersüchtig? Haben sie so viel Wissen und so viele Bücher darüber gelesen wie ich?
6.)    mir jeden Tag Zeit für meine Gefühle nehme, meine Gefühle ernst nehme und über meine Gefühle rede.
7.)    weiß, dass andere Personen mit ihren Kommentaren nichts als Schaden anrichten. Sie sollen ihre Sorgen um meine Gesundheit mit jemand anderem bespre-chen. Ich kann nichts dafür, wie sie mein Verhalten und meinen Körper bewerten. Das ist allein ihre Sa-che. Deswegen müssen sie allein damit fertig wer-den, aber nicht, indem sie versuchen, mich zu än-dern. Wenn ich weiterhin auf ihre Kommentare höre, bleibe ich von ihnen abhängig. Außerdem nehme ich ihnen ihre Entwicklungschancen.
8.)    weiß, dass Menschen, die ihre Liebe mir gegenüber an mein Aussehen knüpfen, meine Liebe im Gegen-zug nicht verdient haben.
9.)    supergute Freunde habe, mit denen ich über meine Probleme reden kann.
10.)    mich akzeptieren darf, auch wenn andere das nicht tun.
11.)    mir sage, dass ein gesunder Körper und eine gesun-de Psyche wichtiger ist, als dem Schönheitsideal un-serer Gesellschaft zu entsprechen.
12.)    wenn jemand schnippisch sagt: Jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich, dann antworte ich: Genau, Gesundheit kennt kein Gewicht. Und üb-rigens ist auch jeder für seine Gefühle selbst verantwortlich.

A: Aber meinst du, deine Freunde mögen dich dann noch, wenn du dick bist?
I: Glaub mir, echten Freunden ist es egal, wie du aussiehst. Egal, ob dick oder dünn, trainiert oder untrainiert, zumindest richtigen Freunden ist das egal. Und das sind sowieso die wichtigsten Menschen in meinem Leben.
A: Aha. Aber was ist mit deiner Familie?
I: Meine Familie hat scheinbar nicht viel Ahnung davon, was eine langfristige Genesung von einer Essstörung ausmacht. Sie sollen ihre Sorgen mit jemand anderem besprechen. Ich kann mit ihnen über meine Gefühle reden. Und wenn es mir zu viel wird, dass sie mich so sehr nach meinem Äußeren beurteilen, kann ich das auch sagen.
A: Stimmt, das ist schon mal gut. Aber ich muss sagen, dass ich unseren Körper abgrundtief hassen werde, wenn du zu-nimmst.
I: Ana, klar magst du unseren Körper dann nicht mehr. Es ist deine Eigenschaft, dass du ihn verurteilst, sobald er ein biss-chen dicker wird. Hör zu, ich glaube, wir passen nicht mehr so richtig zusammen. Ich glaube, du brauchst einen eigenen Körper. Du könntest aus meinem Leben ausziehen und einen eigenen Körper aus Luft mit Flügeln bekommen. Was hältst du davon?
A: Oh ja, das finde ich gut.
I: Ich auch, dann kannst du über mir schweben in meiner Zimmerecke oder so. Und immer wenn etwas ist, dann kann ich dich etwas fragen. Vielleicht kannst du mir sogar manchmal helfen, anderen zu helfen.
A: Oh ja, oh ja, oh ja, das klingt richtig, richtig gut!
I: Hihi, das freut mich  Und mein gesundes Ich vertraut seiner Intuition und seinem Körpergefühl, wenn es wieder da ist, nachdem ich meine Periode regelmäßig hatte.
A: Oh ja, das ist mega! Kann ich jetzt schon umziehen?
I: Ja, gern, der Platz ist frei. Ich bin so gespannt. Wie das Le-ben ohne dich in meinem Körper wird.
A: Ich auch. Ich freu mich auf meinen neuen, ganz leichten Körper.
I: Und ich mich auf meinen gesunden Körper. Auf den Stolz, meinen gesunden Verstand zurückzuerobern. Ich komme dich morgen wieder besuchen, wenn du möchtest, und dann reden wir.
A: Klar, gern. Du bist jetzt frei. Und ich bin jetzt frei. Das fühlt sich so gut an.
I: Finde ich auch. Bis morgen dann.
A: Bis morgen, tschüssi.