Philipp Létranger mit Lesebericht zu Sigune Schnabels 'Glas und andere Irrtümer'
Lesebericht zu "Glas und andere Irrtümer" von Sigune Schnabel
Sigune Schnabels erster Prosaband ist im Herbst 2025 im Geest-Verlag erschienen und vereint 31 kurze Erzählungen. Jede für sich erzählt aus einer anderen Welt, obwohl wir doch alle, die Leser wie die Antagonisten dieser Geschichten, uns diesen einen Planeten teilen.
Als Leser betrete ich in den hier vorgelegten Geschichten ein Reich, das mir im "wahren" Leben verschlossen bleibt: die Gedankenwelt anderer Menschen, ihre ganz subjektive Sicht auf die Welt. Den Gedanken der Menschen zuzuhören ist etwas völlig anderes, als das zu hören, was sie sagen – jede Erzählung in diesem Buch macht das unmissverständlich klar.
Mag sein, dass die Gestalten in diesem Buch mehrheitlich Außenseiter sind: ungewöhnliche, einzigartige Menschen, die sich am Rand der Gesellschaft bewegen. Aber sehen wir uns nicht oft selbst so, nämlich eher am Rand der Gesellschaft? Sind wir nicht immer wieder hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zu all den Anderen zu gehören, und dem Streben nach Selbständigkeit und Autonomie?
Selten hat mich die Lektüre eines Buches so deutlich sehen lassen, wie zutreffend Platons Höhlengleichnis unsere innere Verfasstheit beschreibt, und wie luftig und fragil der von ihm beschriebene Weg aus der Höhle heraus ist.
Das Ungewöhnliche an diesen Geschichten ist Sigune Schnabels Art zu erzählen, und die besondere Bedeutung, die Sprache für ihr Erzählen und für die Erzähler einnimmt: Sprache und ganz besonders die Bilder darin werden von ihr beim Wort genommen, bildet gleichsam den Boden, auf dem die Handlung sich fortbewegt.
„Glas und andere Irrtümer“ ist eine mitreißende und bereichernde Lektüre für alle, die beim Lesen nicht unbedingt immer festen Boden unter den Füßen brauchen. Und alle anderen Leser sollten gerne mal versuchen, wie sich das anfühlt.
Die Rezensenten vor mir hatten recht: Dieses Buch ist einzigartig und unbedingt lesenswert. Es wird und soll noch viele bewegte Lesergesichter leuchten sehen. Gönnt es euch!