Reinhard Rakow - Blenden und Gleißen Zu populistischer Politik ( zu Moses Mendelssohns Geburtstag (06.09.1729-04.01.1786)

Blenden und Gleißen

Zu populistischer Politik

 

 

Damals stand, wie zu allen Zeiten bey dem gemeinen Volk, die Art von Leuten in großem Ansehen, die sich bemühen, eingewurzelte Vorurtheile und verjährten Aberglauben durch allerhand Scheingründe und Spitzfindigkeiten zu begünstigen.

 

Sie gaben sich den Ehrennamen Die Weisen. Sie übernahmen die Erziehung der Jugend, und unterrichteten auf öffentlichen Schulen so wohl, als in Privathäusern, in Künsten, Wissenschaften, Politik, Ethik und Religion, mit allgemeinem Beyfalle.

 

Sie wußten, daß in demokratischen Regierungsverfassungen die Beredsamkeit über alles geschätzt wird, daß ein braver Mann gerne von Politik schwatzen höret, und daß die Wissensbegierde schaaler Köpfe am liebsten durch Mährchen befriediget seyn will:

 

Daher unterließen sie niemals, in ihrem Vortrage gleißende Beredsamkeit, falsche Politik und ungereimte Fabeln so künstlich durcheinanderzuflechten, daß das Volk sie mit Verwunderung anhörte und mit Verschwendung belohnte.

 

Mit den Kirchen standen sie in gutem Vernehmen; denn sie hatten beiderseits die weise Maxime: leben und leben lassen. Wenn die Tyranney der Heuchler den freyen Geist der Menschen nicht länger unter dem Joche halten konnte:

 

So waren jene Scheinfreunde der Wahrheit bestellt, ihn auf falsche Wege zu verleiten, die natürlichen Begriffe durcheinander zu werfen, und allen Unterschied zwischen Wahrheit und Irrthum, Recht und Unrecht, Gutem und Bösem,

 

Durch blendende Trugschlüsse aufzuheben. In der Theorie war ihr Hauptgrundsatz: Man kann alles beweisen und alles widerlegen, und in der Ausübung: Man muß von der Dummheit anderer, und seiner eigenen

 

Ueberlegenheit, so viel Vortheil ziehen, als man nur kann.  Diese letztere Maxime hielten sie zwar, wie leicht zu erachten, vor dem Volke geheim, und vertrauten dieselbe nur ihren Lieblingen, die an ihrem Gewerbe Theil nehmen sollten;

 

Allein die Moral, die sie öffentlich lehrten, war nichts destoweniger für das Herz der Menschen eben so verderblich, als ihre Politik für die Rechte, Freyheit und Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts.

 



Nach Moses Mendelssohn (06.09.1729-04.01.1786) „Phaedon oder Über die Unsterblichkeit der Seele“, über die Sokrates umgebenden Sophisten (1767)