Reinhard Rakow - grosny
grosny*
1.
die flußläufe blutgetränkt. die ufer vermint. aufgetürmt zu schützen-
grabenwällen gebein unter preußischblauen
himmeln die schwanger gehen mit drohnen lehmgrün und
libellengeflügelt, bisweilen zu entladen sich in belferndem stakkato
aus der mp oder todbringend dem stoß des flammenwerfers
oder der bordkanone worauf der vormals nur
mit anstrengung auszumachende viergebeinte im tarnanzug
ockergrünbraun eins geworden mit dem schütteren laub der ewig
schwarzen wälder jäh in flammen aufgeht wie das laub
ringsum doch heller länger abbrennt fackelgleich sich am boden
wälzt. aufspringt. die form ändert. doch nicht lange mehr. bald
still wird und nur noch lodert in vor allem satt gelbrot
oder weiß je nach fettanteil. manchmal brennt er auch in blau bis
grüner färbung sei es des stoffes des anzuges wegen sei es wenn es
an die knochen geht oder die eingeweide
verschmurgeln, es bleibt stets ein ungesund schwarzer rauch ähnlich
dem beim verbrennen von reifen von lastwagenreifen oder beim
schlachtfest wenn ein stück wellfleisch ins feuer
fällt und es riecht bis ins führerhaus hinein. schnell abgedreht. das
enge tal zu fliehen da wo der fluß starrt vor lehm und vor blut und
vor scheiße. zurück in die ebenen die weiten die schutzlosen
räume der abgestorbenen gräser der verlassenen hochstände
der schilfgetarnten flaks aufgebaut von skeletten
bedient von untoten.
zurück?
vorwärts
in die salve.
2.
in deinen wäldern, grosny, lebt der tod. er lauert hinter jedem busch er trägt panzerketten. er walzt nieder alles selbst was sich ergibt
zerquetscht und zersplittert er. er brandrodet
jede lichtung in der der jeweilige feind den anderen wähnte. er unter
schreibt mit schwarzenstelen in weißer asche die hellgrau qualmt. seine wolken aus gift nehmenden kämpfern den
atem den tannen die nadeln den eichen das laub. auf den höhen wo der wald noch ist: moosweich höhlentief : legt er
minen verscharrt er patronen granaten stellt er fallen
mit eisernen zähnen. läßt er die steller der fallen und die nicht in
ihnen ausbluteten einander beschießen aus dem schutz der
unterhölzer aus dem einer dichten krone. und er malt bilder
wie jenes: mannshoher reststamm nach oben splitterspitz zulaufend wie ein riesiger zahnstocher. verblieben ein ast. daran gehängt ein
rumpf an dem die kleider starren in geronnem
rotbraun. gespießt auf die spitze des zahnstochers der kopf mit weit
aufgerissenen augen. in deinen wäldern, grosny,
lebt er.
3.
grosny, dein volk leidet hungers. nicht früchte des ackers die krume bedeckt. in den furchen, notdürftig verborgen unter einer haut schlamm: fliegenfraß. geerntet hat der
schnitter. das geräusch der sense beim schwung als lautloses menetekel am himmel. dumpfes summen über den fluren. verborgen die schollen unter lebendem tuch, so schwarz wie
marmor, so schillernd wie die auferstehung: blau grün silber. blau. grün. silber. schwarze. facetten eine jede belebt, bewegt. schwirrt auf, landet, scharrt in flüchtigem sand, nascht vom
leichenwasser. setzt das kauwerkzeug an das weiche verfaulende fleisch, darein die legeröhre. bei sonnenschein wird der süße geruch über den feldern schwerer und das tuch aus
schmeißfliegen gerät in erregung zunehmend, wird dichter, vermehrt um getier aus den futterplätzen nebenan und um jene die den larven im weich frisch entschlüpft sind.
4.
grosny du große stolze lebendige
stadt heimat deinen bürgern zuflucht deinem umland
herberge deinen alten deinen nährern deinen
zuvörderst kindern heimat deinem stetig pulsierenden
menschengewimmel südländisch teppichwebender heiterkeit
grosny
versammelt auf deinem marktplatz wo sie fisch gegen beeren und socken gegen zigaretten tauschten grosny wo die luft
vibrierte auch im winter grosny vorstimmengewirr grosny
deine schulen grosny hunderttausende menschen grosny
das leben. die raketen schlugen versehentlich ein.
die marktstände flogen in die luft und es blieben große krater. auf
den resten der benachbarten stände fanden sich splitter der hölzer des zerstörten standes und splitter von knochen derer die da waren. und hinein in die schreie und hinein in das
fliehen schlugen weitere versehentliche raketen ein und es folgten
versehentliche flugzeuge die versehentliche
menschen töteten und als man die trümmer geräumt
und die leichen geborgen und beerdigt hatte folgte der nicht
versehentliche häuserkampf: um jede einzelne behausung:
um jede die noch nicht zerbombt war: konnte man den raketen und bomben noch ausweichen in die keller, enge grüfte mit feuchten wänden ohne ausreichend luft, beim einschlag nebenan oder darüber sterbebett und leichenhalle den alten, kreißsaal und
sterbebett den zu früh abgegangenen: konnte
man ihm nicht entfliehen wurde man allenfalls bei dem
versuch ins nachbarhaus oder über die straße sich zu retten
abgeknallt wie ein karnickel das nicht mehr haken schlagen kann,
mitten im lauf, plopp !, und wer in seiner verzweiflung dem wahn
verfiel zu glauben sich wehren das meint: durch gegenwehr sich retten zu können, zog seinen tod nur unnötig in die länge
mußte erleben wie ein fenster nach dem anderen zerschossen
wurde, ein zimmer nach dem anderen
granatengeblitzt ausbrannte bis er im letzten zimmer
getroffen war oder in den flammen erstickte
oder bis ein panzer das haus
ins visier nahm und der am leben hing
in den einstürzenden wänden
begraben wurde unter dem schutt ein
letztes zucken ein letzter hauch. auf
deinem marktplatz grosny türmen sich berge aus schutt berge aus zermahlenen häusern, in deinen schulen grosny lagern die patronen und sprengstoff, in den krankenhäusern haben die herren des krieges sich breit gemacht. grosny
du getroffene
tote du ehemalige
stadt. lagerstatt
abhalde friedhof. grosny
friedhof deinen alten deinen jungen. friedhof hunderttausenden.
grosny
grosny
kilometerlange friedhofswege aus beton
links und rechts grabmale
die wie zerstörte häuser aussehen, versehentlich.
aus toter festerhöhle ein sinnloser
vorhang der den schuttbergen zuwinkt.
über allem ein himmel blutorange und kein
ton nicht einmal der eines sperlings
ein pfiff anscheinend
des windes durch ein einschußloch in der mauer oder
der einer sterbenden ratte.
wenn der scharlachrote regen den letzten hirnbrei von
zerbombten mauern gewaschen haben wird
wenn der letzte der sich verbergen konnte einer
verdurstenden ratte ans tageslicht
gefolgt sein wird eingekotet
mit sich lösenden häuten
staubverkrustet grosny dann
haben sie es
erreicht
grosny du
monster.
*=monere (lat.) = mahnen, monstrare (lat.) = zeigen.
Ein Monstrum ist mithin ein Mahnzeichen, ein Mahnmal