Rezension von Sigune Schnabels ' Glas und andere Irrtümer' von Marny Münnich
Sigune Schnabel, Glas und andere Irrtümer. Eine Rezension
Worte sind wie Muscheln, die man findet, wenn man an einem Strand spazieren geht. Wir können sie zu einer schönen Kette aufziehen und sie verschenken. Jedoch wird man bei Sigune Schnabel den Verdacht nicht los, dass es Millionen Geschichten und Worte gibt, die von ihr gefunden werden wollen. Vielleicht haben die Muscheln gekichert, als Sigune sie gefunden hat? Vielleicht haben sie sich den Sand aus den Rillen gerieben und große Augen gemacht, als sie von ihrem Feingefühl für Worte aufgefädelt wurden? Nicht unwahrscheinlich ist, dass sich in „Glas und andere Irrtümer“ sprachliche Perlen finden lassen, die Sigune Schnabel uns unaufgeregt zur Verfügung stellt. Eine Auswahl hat sie uns in ihrem Prosa-Debüt in nachdenklichen, heiteren, irritierenden Kurzgeschichten gesammelt. Und mit jeder gelesenen Geschichte wird die Wahrscheinlichkeit größer, dass Sigune Schnabel 1001 Geschichten an ihrem Strand der Möglichkeiten schreiben könnte. Einem Strand, zu dem nur sie zutritt hat, um Realität durch das Sieb der Unmöglichkeiten zu sieben, bis man in unterschiedlichen feinsandigen Gefühlen gebettet wird. Gedanken, Gefühle und Vorstellungen malen sich beim Lesen wie Bilder in den Sand. Und sind doch mit der nächsten Welle, dem nächsten Satz wieder verschwunden.
Oder ob es doch statt Muscheln Mosaiksteine sind, die Sigune Schnabel aus dem Meer sammelt? Mosaiksteine, die einst Salontüren in Schiffen waren, die vor hundert Jahren untergegangen sind und jetzt erzählt werden wollen? Es wird Sigune Schnabel Geheimnis bleiben. Letztendlich spielt das auch keine Rolle. Denn jede einzelne Kurzgeschichte ist das Lesen und das mehrfache Lesen wert. Und Sigune Schnabel zuzuhören ein ganz intensives Erlebnis. Denn die Autorin schafft es, ihre Worte zu verschenken, ohne sie zu kommerzialisieren, ohne sie unter Wert zu verkaufen. Sie verleiht den Worten ihre Stimme und entlässt sie mit etwas Wahrem und Ehrlichem auf ihren Weg in die Welt. Sie fängt Momente ein, für die wir keine Worte haben. Und lässt uns trotzdem sprachlos zurück. „Glas und andere Irrtümer“ ist daher unbedingt lesenswert. Aber vor allem lädt jede Geschichte zum Austausch ein. Wenn Literatur das schafft, ist das einander Mensch sein kein Irrtum mehr, und Kunst und Literatur zu erhalten eine Selbstverständlichkeit , die Leser:innen und Autor:innen miteinander verbindet ohne sich zu „ver-antworten“ (als eine Wortperle von Sigune Schnabel).
Marny Münnich