Ruhrgebietslyrik - Ein Sammelband, in dem unter anderm unser Autor Artur Nickel vertreten ist

 Die WAZ berichtet ausführlich über den neuen Band Ruhrgebietslyrik, in dem unter anderem unser Autor Artur Nickel vertreten ist.

Ruhrgebiets-Lyrik - neue Worte am Horizont

Literatur, 02.01.2010, Jens Dirksen

 

Essen. Krimis,
Kinderbücher und Komik: Wenn von Literatur aus dem Ruhrgebiet die Rede
ist, geht es selten um Gedichte. Auch das soll sich im
Kulturhauptstadt-Jahr ändern. Im Klartextverlag erscheint dazu ein
Sammelband mit Ruhrgebietspoesie.

Die Zeit ist reif für
einen „Stimmenwechsel”: Unter diesem Titel erscheint ein Sammelband mit
neuerer Lyrik aus dem Revier im Klartextverlag.

Bewusstseinsströme, Schreibweisen, Traditionen und Perspektiven der Region

Das gedicht

Bewusst trinken

Die Welt geht baden, ich mach Dauerlauf,

die Liebste blüht, ein Kontinent verreckt.

Die andern hungern, meine Tochter steckt

sich süße Tüten rein und frisst sie auf.

Die hungern bis zum Tode, und ich kauf

mirs wie ichs brauche, und mein Leben schmeckt.

Die trinken schlechtes Wasser, gut beleckt

gehn meine Lippen schlafen, denn ich sauf:

den guten Wein, das gute reine Bier.

Das bin ich nicht, dass andere nichts haben.

Ich habe dieses Leben nicht gewählt:

dass es dort stirbt. Hier lebt das Leben, hier

wär ich doch dumm, mich nicht an ihm zu laben

im Wissen: seine Tage sind gezählt.


Thomas Gsella

Aus: „Stimmenwechsel“, Klartext Verlag

Und er enthält – neben einigen „Klassikern” der
Ruhrgebietspoesie wie Ernst Meister, Lieselotte Rauner und Nicolas Born
– auch die ausgewählten Gewinnertexte aus dem Gedicht-Wettbewerb
„Traurige Hurras und freche Verse”, den das Literaturbüro Ruhr in
Gladbeck im vergangenen Sommer gemeinsam mit derWAZ ausgeschrieben
hatte.

So bietet der von Gerd Herholz, dem Leiter des
Literaturbüros Ruhr, herausgegebene Band „Poesie längs der Ruhr”
insgesamt 73 Gedichte. Sie bilden einen klangvollen Querschnitt durch
Bewusstseinsströme, Schreibweisen, Traditionen und Perspektiven der
Region. Einsetzend mit dem Ende der 1950er-Jahre entfaltet sich ein
Panorama von Seelen- und Geschichtserfahrungen. Das reicht von den
bangen Grubenfahrt-Erfahrungen des „Neubergmanns”, die der altvordere
Kurt Küther in Verse fasste, bis zum „video-split per audio-guide”, zu
dem sich Matthias Dornhege erst jüngst durch den Anblick eines
Cézanne-Gemäldes in der Villa Hügel anregen ließ.

„Fragt mich
nicht”, schreibt Ellen Widmaier, „warum ich nicht / mit einer Stimme
spreche” – und schon keimt der Verdacht, das lyrische Ich könnte mehr
sein als eine Person: „Stimmbruch” heißt dieses Gedicht, das den Titel
des gesamten Bandes inspiriert hat.

Dessen Vielstimmigkeit kennt
die Melancholie der ausgewanderten Einwanderer (Mevlüt Asars „Rückblick
am Mittelmeer”) genauso wie den fröhlich schüttelreimenden Übermut der
Bleibenden mit Günter Nehms „Susanne im Bade”:

Ins Bad mich die Susanne winkt,

bevor sie in die Wanne sinkt.

Soll ich es mit Susanne wagen?

Was wird dazu die Wanne sagen?

Alltagserfahrungen werden stilisiert


Wenn es ein durchgehendes Merkmal von Ruhrgebiets-Lyrik gibt,
dann ist es vielleicht die Neigung, vor allem Alltagserfahrungen zu
stilisieren. Selbst wenn Michael Klaus „Im Seebad” weilt, tauchen am
Horizont die Kellner und ihre Arbeit auf – ironisch gebrochen, wie so
oft bei dem viel zu früh gestorbenen Literaten aus Gelsenkirchen.
Reisegedichte und Liebesgedichte zwischen Illusion und Enttäuschung,
Augenblicksgedichte und Sprachartistik, die Gereimtes mit
rhythmisierten Ungereimtheiten verbindet: Nicht einmal die Vielfalt der
Ruhrgebietslyrik, wie sie sich im „Stimmenwechsel” darbietet, ist
wirklich auf einen Nenner zu bringen.

Der Wechsel allerdings
stellt sich vor allem als Befreiung von den engen Grenzen der frühen
Jahre dar – die Gedichte des Ruhrgebiets öffneten im Laufe der
Jahrzehnte mehr und mehr dem Komischen (etwa mit Uli Becker, Thomas
Gsella und Fritz Eckenga), dem Intimen (Marion Poschmann und Sigrid
Kruse), der klassischen Moderne (H.D. Gölzenleuchter).

Literarhistorisches

Ein
Extra der besonderen Art bietet zudem die zweite Hälfte des Bandes:
Dort werden Gedichte von Ralf Rothmann, Hannelies Taschau, Nicolas Born
und anderen einer genauen, genießerischen Lektüre unterzogen - durch
Literarhistoriker wie Herbert Kaiser und Autoren wie Ralf Thenior oder
Roger Willemsen. Sie schreiben darüber, wie sich die Gedichte verstehen
lassen, sie lassen sich die Verse auf der literarischen Zunge zergehen,
sie beleuchten ihre Bedeutung.

Sie sind damit einem Mann auf der
Spur, dem der „Stimmenwechsel”-Band gewidmet ist: Dem langjährigen
Kulturchef der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Hans Jansen, der weit
über ein Jahrzehnt hinweg in der Wochenendbeilage Gedichte erläutert
und beworben hat und so zum – „unermüdlichen Fürsprecher der Poesie”
wurde.

Stimmenwechsel. Poesie längs der Ruhr. Hg. von Gerd
Herholz. Klartext Verlag, 152 Seiten, geb., 14,95 Euro (ISBN
978-3-8375-0292-3)