Sönke Baumdick - Ich schäme mich

Ich schäme mich.

Du trittst Wasser und ich schäme mich.
Alle 4 Stunden, 6-mal am Tag, 2275-mal allein im letzten Jahr
Klagst du mich stumm an aus der Ferne, während du drohst,
Nummer 2276 zu werden,
Klagst du mich nicht stumm an aus der Ferne, denn
Deine Tochter, deinen Sohn über Wasser haltend
Kannst du an nichts anderes denken, als
Deine Kraft zu sparen, und
Gott möge dir Kraft schenken, auf dass
Die Wellen nicht über euch zusammenschlagen.

Ich will beschämt zu Boden sinken, und Schäme mich dieser Worte, denn
Wie kann ich zu Boden sinken,
Während gleichzeitig eure Körper in die Tiefe
Hinabgezogen werden, und es zieht mich zum Meer,
Um dort alles fortzuschmeißen, mein Hab und Gut
Zu verkaufen, um Gelder zu spenden und Helfer zu werden auf
einem der wenigen Schiffe, die Europa im Herzen noch tragen, während Europa mir lässt das Herz verzagen.
 
Ich schäme mich,
Dass aus dem großen Speicher der ewigen Seelen meine heruntergeladen wurde in eine bessere Welt als deine.
Dass der Zufall dich auserkor, aus einer grausamen Welt fliehen zu müssen
Auf ein Boot, das dich eben so weit hinausfahren wird, dass du niemals wieder
Ein Ufer erreichen kannst.
 
Mit welchem Recht stehst du da und ich hier, in einem Leben ohne Entbehrungen, Partys feiernd, nur hin und wieder eine Demo or-ganisierend, um eurem Leiden zu gedenken,
Schäme ich mich, dass in den Gesprächen, in denen mir dieser und jene sagt,
Dich zu retten würde nur ein Signal senden an jene,
Die auch kommen möchten.
Ich nicht aufgesprungen bin, wütend herumbrüllend und auf den Tisch schlagend,
Dass wir diese Diskussion überhaupt führen, dass niemand niemals,
weder heute noch irgendwann, sagen darf, Menschen dürften nicht aus Seenot gerettet werden.
Ich schäme mich für diese Menschen aus Bekanntschaft, Freundeskreis und Familie,
Und ich schäme mich, dass ich hier diese Worte wähle und schlecht über diese Menschen aus Bekanntschaft, Freundeskreis und Familie rede,
 

Statt
Alles fortzuschmeißen, Hab und Gut zu verkaufen, um Gelder zu
spenden und Helfer zu werden auf einem der wenigen Schiffe, die
Europa im Herzen noch tragen, während eure Worte mir lassen das Herz verzagen.
 
Ich schäme mich, dass unsere Demos nur kleine Erfolge bringen,
Während für dich die Zeit läuft,
Alle 4 Stunden, 6-mal am Tag, 2275-mal allein im letzten Jahr
Tickt das Metronom des Todes unerbittlich,
Während ich Reden halte, und Banner hoch,
An Samstagvormittagen in überfüllten Innenstädten nach
durchgesoffenen Freitagnächten,
Schäme ich mich, dass mein Protest nicht radikaler ist, wo
Bleibt mein voller Einsatz, warum
Kann ich nach der Demo einfach wieder nach Hause gehen,
Tee trinkend mit meiner Familie im Garten sitzen, während du
Zunehmend panisch mit den Armen ruderst und spürst, wie dich langsam die Kräfte verlassen.

Ich schäme mich, diese Bühne zu nutzen, um euch mein Seelenleid zu klagen,
Denn – mal im Ernst, was können wir hier schon groß wagen, wenn uns die Herzen verzagen,
Können wir doch nicht tagein, tagaus über das Sterben auf dem Mittel-meer klagen,
Und ich schäme mich, dass wir es nicht tun,
Dass ich nicht hinausgehe und es an jede Wand schreibe, auf viele Banner und die häng ich dann an die höchsten Gebäude der Stadt.

Ich schäme mich meiner Herkunft
Und Teil dieses Systems zu sein,  
Denn wenn ich es auch nicht erschuf,
So habe ich mich ihm doch gefügt,
Während ich brav Abschluss auf Abschluss häufte


Und mein System Abschuss auf Abschuss in deinem Land.
Ein System, das mit immer neuen Schichten von Bürokratie
Unsere Wahrnehmung wie in Watte packt, sodass wir taub und stumm werden gegenüber deinem Leid,
Und wenn auch nicht blind, so wechseln wir doch das TV-Programm.
Schichten von Bürokratie, durch die man sich mühsam vorkämpfen muss, um dann jemanden zu finden, der sagen könnte, okay, wir schicken
unsere Marine, wir müssen nur kurz – aah ja, der Antrag auf Rettung Er-trinkender im Mittelmeer, ich bitte einmal um Ihr Handzeichen –
oh, leider abgelehnt, PECH.

Wie grausam es ist,
Ohnmächtig aus dem Speicher der ewigen Seelen
Heruntergeladen zu werden in diese bessere Welt, die keine ist, weil sie dir nicht helfen wird,
Und ich schäme mich, das als grausam zu bezeichnen, während du Wasser trittst,
Alle 4 Stunden, 6-mal am Tag, 2275-mal allein im letzten Jahr
Tratst du dein Schicksal trotzig mit Füßen,
Nicht willentlich zu sterben, wie unsere
Außengrenze es dir auftrug, denn
Diesen Antrag hatten sie angenommen,
Schutz der Außengrenze vor illegaler Migration, und sie
Schützten die Grenze erfolgreich.
Du strampelst vor unserer Außengrenze und wenn du dann tot bist, ist die Grenze geschützt.
2276.
Abgewehrt.
 
Nicht mehr lange, und heute werden zum fünften und zum sechsten Mal vier Stunden vergangen
Und vielleicht wird niemand ertrunken sein, denn
Durchschnittswerte sind treue Helfer, um Leid greifbar zu machen.




Und vielleicht ertranken gestern schon zwei oder drei zusammen, die mit letzter Kraft aneinander festhielten, um im Ende aller Dinge nicht allein sein zu müssen.
 
Was bleibt, ist das Wort.
Und die Hoffnung, dass dieses Wort einmal Gesetz und System wird
Und ich meine Kinder beruhigt werde in die Schule schicken können, weil sie dort lernen, dass ein System, welches den Menschen nicht dient, kein rechtschaffenes ist.
Was bleibt, ist der Glaube an diese dummen, dummen Menschen aus
Bekanntschaft, Freundeskreis und Familie.
Denn, lieber Fremder, dessen Leid mich stumm anklagt aus der Ferne, in den Gesprächen, in denen ich nicht aufsprang, nicht herumbrüllte und nicht auf den Tisch schlug, haben wir alle miteinander festge-stellt, dass
Trüge die Sea-Eye, die Life-Line oder die Aquarius sie an dich heran,
Dir wohl alle die Hand reichen würden.
Ein Funke Hoffnung.
 
Freude, schöner Hoffnungsfunken,
Tochter aus dem fremden Land,
Wenn du bist nicht längst ertrunken,
Bete ich:
Komm sicher an.