Sabine Brandl - Eine andere Welt (Antirassismusaktion - 'Vor allem anderen bin ich Mensch')
Eine andere Welt?
»Bist du ein Mann oder eine Frau?«
»Ach, die ist doch bestimmt eine Lesbe!«
Es folgen albernes Japsen, Keckern und Lachen.
Die Wörter hallen laut durch sie hindurch. Früher, da hätte sie einen scharfen Pfeil gespürt, der sich tief und feurig durch ihre Brust bohrt. Heute ist es eher ein dumpfes Brummen in ihrem Schädel, ein leichtes Zusammenziehen ihres Herzens.
Andrea hat die drei Jungs vor dem U-Bahn-Eingang schon aus einiger Entfernung wahrgenommen: planlos herumlungernd, mit Energy-Drinks in der Hand, grölend, Sprüche klopfend. Eigentlich hat sie gar nicht mit einer Anmache dieser Art gerechnet, schließlich ist es Jahre her, bestimmt fünf oder mehr, seit sie das letzte Mal aufgrund ihrer angeblich nicht ausreichend femininen Ausstrahlung angegangen wurde.
Andreas erster Impuls ist einfach weiterzugehen, nicht auf die Pöbler zu reagieren. Doch noch ehe sie sich versieht, schießt ihr das Bild in den Kopf, wie sie lässig auf einen der Sprücheklopfer zugeht, ihm drohend in die Augen schaut, ihm seine Getränke-Dose aus der Hand reißt, ihm deren Inhalt über den Kopf gießt und mit rauchiger Stimme sagt: »Wären alle Jungs so wie du, gäbe es auf dieser Welt nur Lesben.« Ihn dann verdattert stehen lässt, auf dem Absatz kehrt macht und John-Wayne-mäßig davonschlendert.
Doch nein. Für den Moment ist das zwar eine schöne Fantasie, aber sie hat doch andere Ansprüche an sich … Also was tun? Ihr fällt die Szene ein, als sie das letzte Mal auf diese Art und Weise belästigt und diffamiert wurde …
Ein junger Mann mit südländischem Aussehen, vielleicht Türke oder Araber, sprach sie in der Fußgängerzone an: »Hey, bist du eine Lesbe, oder was?« Sie schnappte zurück: »Ja, bin ich, aber was geht Sie das an?« Da lachte der Typ und sagte: »Weil du nicht normal bist, ey! Eine Frau muss sich wie eine Frau kleiden und benehmen, nicht wie ein Mann!« Andrea spürte, wie ihr Puls schnell wurde, sie bläffte: »Deine absurden Theorien will hier in Deutschland keiner hören! Wir leben in einem modernen Land! Pass dich gefälligst an unsere Werte an oder halt die Klappe, du unerträglicher Macho!«
Ein älterer Mann neben ihr hatte ihre kleine Wutrede mitbekommen und mischte sich nun ein. »Genau, lass die junge Frau hier in Ruhe und benimm dich. Oder geh dahin zurück, wo du hergekommen bist! Respektloses Türken-Pack!«
Da brüllte der Südländer zurück: »He, Alter! Dir ist schon klar, dass die hier eine Lesbe ist!« Bei dem Wort ›Lesbe‹ zogen sich die Mundwinkel des Alten sofort nach unten. Er sah sie verdutzt an, dann blickte er wieder auf den Fremden, schüttelte energisch den Kopf. »Und wenn schon. Mir ist eine deutsche Lesbe lieber als ein türkisches Arschloch.«
Andrea murmelte daraufhin nur verständnislos: »Geht´s noch?« und entfernte sich mit schnellen Schritten.
Das war richtig schiefgelaufen und ihrerseits überhaupt keine gelungene Aktion gewesen. Aber wie soll sie nun reagieren – heute – jetzt – in dieser Situation? Auf jeden Fall möglichst selbstbewusst, deutlich ruhiger und besonnener als vor fünf Jahren. Es muss ja noch einen anderen Weg geben, einen vernünftigen und erwachsenen Weg – abseits des stummen Wegduckens, der knorrigen John-Wayne-Variante – oder noch schlimmer: des verbalen Gegenangriffs, der ungewollt in die rechte Ecke abgleitet … (und letzteres ist ausgerechnet ihr passiert, die sich schon damals aus voller Überzeugung in der Flüchtlingshilfe engagiert hat!)
Das Blöde ist: Sie hat sofort ungemein viel im Kopf, wenn es um Homophobie, Ausgrenzung und Mobbing geht. Die Gedanken wirbeln und schießen in ihrem Hirn chaotisch umher, verheddern sich gegenseitig, wollen zugleich unbedingt laut ausgesprochen werden. Es ist wie ein stummer Schrei, der tief in ihrer Kehle steckt. Sie hat schon so unendlich viel mitgemacht. Es hat sich in ihr so vieles angesammelt. Aber sie hat nicht ewig Zeit zu überlegen, die Jungs schauen sie mit erwartungsvoll funkelnden Augen an, sie werden sich gleich über ihr Schweigen lustig machen, wenn sie nicht reagiert. Denn natürlich ist das eine gute Vorlage für neue boshafte Späße, wie sie so stumm dasteht und überfordert nach Wörtern sucht. Also spricht sie das aus, was ihr in der Sekunde als erstes in den Kopf kommt: »Warum macht ihr das?«
Die Jungs blicken sie verblüfft an. Mit dieser Frage hatten sie wohl nicht gerechnet. Doch der Typ, der vorhin ihr Frau-Sein angezweifelt hat, findet schnell zu seiner Frechheit zurück. Er rückt sein Baseball-Cap zurecht und sein feistes Gesicht verzieht sich zu einem schiefen Grinsen: »Weil wir neugierig sind, ist doch klar. Wenn man so aussieht wie du, muss man mit solchen Fragen rechnen.«
Ach je – wie gerne würde Andrea den Jungs jetzt von ihrem Wunschtraum erzählen: Von einer Welt, in der Geschlechts- und Identitätszuschreibungen nicht mehr so bedeutsam wären – von einer umfassenden Reform und gesellschaftlichen Umbesinnung – hin zu mehr Respekt, Achtung, Offenheit und Toleranz – egal, ob es um die kulturelle, ideologische oder sexuelle Vielfalt geht. Sie weiß aber auch nicht, wie sie all die Punkte nun auf die Schnelle in für diese Situation angemessene Worte fassen und erklären soll. Also seufzt sie leise und sagt: »Wisst ihr, manchmal wünsche ich mir einfach eine andere, eine bessere Welt.«
»Was zum Teufel faselst du da?«
Ihr Kopf ist kurz davor zu explodieren, ihr gesamter Körper steht unter enormen Druck. »Ich meine, die Welt könnte doch besser und einfacher sein. Trotz ihrer Komplexität. Wenn wir uns noch mehr als Gemeinschaft verstehen würden.«
Wieder verdutztes Starren. Dann sagt der schlaksige Typ, der rechts neben dem Cap-Träger steht: »Boa, die Alte spinnt ja mal richtig, Oida.«
Andrea zuckt resigniert mit den Schultern. »War mir schon klar, dass das nichts bringt. Schade.«
Daraufhin zieht sie den Kopf ein und geht weiter. Albernes Gegacker und Gejohle begleiten sie, als sie die Treppe zur U-Bahnstation nach unten geht.
»Na, das hat ja mal echt mäßig geklappt«, denkt sie sich frustriert.
Unten an der Treppe bleibt sie stehen. Nein. Das kann sie so nicht auf sich sitzen lassen. Es muss besser gehen. Sie darf jetzt nicht einfach kapitulieren. Und so ganz schlecht hatte sie es vorhin doch gar nicht angepackt. Sie war weder schnippisch noch beleidigend geworden. Ihre Sätze waren nur zu losgelöst und ohne sinnvollen Zusammenhang im Raum stehen geblieben. Sie muss sich vielleicht nur besser erklären. Es zumindest versuchen. Allein schon um ihrer selbst willen. Um nicht innerlich zu platzen, um ihre Gedanken, ihren inneren Aufschrei hier einmal richtig loszuwerden!
Entschlossen geht sie die Stufen wieder hoch und stellt sich aufrecht vor die Jungs. Sieht ihnen abwechselnd direkt in die Augen und legt los. Ihre Stimme ist fest und laut, sie redet schnell und leidenschaftlich, auch damit die drei sie hoffentlich nicht unterbrechen:
»Hört mir bitte mal einen Moment zu. Als ich in eurem Alter war, hatte ich eine extrem schwierige Zeit. Ich wurde in der Schule gemobbt und von meinen Eltern mit Vorwürfen überhäuft, ich fühlte mich allein, aussätzig, falsch, fehl am Platz. Ich habe es ja versucht, ›normal‹ zu sein, habe versucht, Jungs interessant zu finden, habe mir Schminktipps angehört, Begeisterung für Boygroups vorgegaukelt – doch das hat nicht funktioniert, hat mich nicht verändert und hat mir auch keiner wirklich abgenommen, und so habe ich das Schauspiel bald aufgegeben. Damit hatte ich es mir mit meiner Peer-Group dann gänzlich versaut. Ich wurde vollends zur Außenseiterin, zum Freak. Und meine Eltern – beide erzkonservativ und katholisch – haben mir mehr als deutlich gemacht, dass sie sich für mich schämen, als ich es mit sechzehn Jahren endlich gewagt habe, mich als lesbisch zu outen.«
Andrea räuspert sich, ordnet schnell ihre Gedanken, fährt dann selbstbewusst ihre Rede fort, um sich das Schweigen ihrer irritierten Zuhörer nicht zu verspielen. »Nun wisst ihr es also, ich bin lesbisch. Also nicht zu hundert Prozent, ich finde auch einige Männer anziehend, tendiere aber stärker zu Frauen. Und was mein von euch angezweifeltes Frausein betrifft: Ich glaube daran, dass die Unterschiede innerhalb der Geschlechter größer sind als die zwischen den Geschlechtern. Ich glaube außerdem, dass Menschen ungemein vielseitig sind und deren großes Farbspektrum ohnehin nie umfassend abgebildet und kategorisiert werden kann. Egal, ob bei der geschlechtlichen Identität oder sexuellen Neigung oder auch der Herkunft. Also, ich darf mich euch vorstellen: Ich bin Andrea, ein Mensch wie ihr – mit vielen Facetten – mehr ist erstmal nicht relevant.
Wisst ihr, ich bin jetzt Mitte vierzig. Vor einigen Jahren hätte ich auf eure Pöbelei wahrscheinlich noch ganz anders reagiert. Aggressiver, wütender, vielleicht auch mit einer Spur Bosheit und Verachtung. Ihr erinnert mich nämlich sehr an die Jungs, die mich damals in der Schule so fertig gemacht haben. Aber ich bin nicht mehr dieselbe wie damals – und auch nicht dieselbe wie vor fünf, zehn oder zwanzig Jahren. Heute habe ich andere Ansprüche an mich selbst, will achtsamer sein. Auch deshalb, weil ich gelernt habe, mich mehr zu akzeptieren, ja sogar ein wenig zu lieben.
Und trotzdem. Ein Teil in mir ist noch immer nicht über die traumatischen Ereignisse von damals hinweg. In mir sitzt heute noch ein kleiner Teufel – oder nein, es ist eher ein verzweifeltes, tobendes Kind, oder noch eher: ein unsicheres und überfordertes jugendliches Mädchen, das um sich treten und schreien möchte. Das sich selbst nicht mag, dass sich für sich schämt. Das wiederum Jungs wie euch beschämen und fertigmachen möchte, um sich ein Stück weit für damals zu rächen. Stellvertretend – denn die Mobber von früher, die werde ich nicht mehr zu fassen kriegen. Die sind jetzt längst erwachsen und können sich vielleicht gar nicht mehr erinnern. Wer weiß, vielleicht bereuen einige sogar ihr Verhalten von damals. Aber … egal.«
Sie zuckt mit den Schultern, schenkt den starren Jungs dann ein kurzes Lächeln. »Einer meiner ersten Impulse auf eure Provokation war übrigens, einem vom euch den Drink über den Kopf zu schütten und einen fiesen Spruch zu servieren. Nun, ihr seht ja: Ich konnte mich noch rechtzeitig bremsen.
Aber was bleibt: Manchmal reagiere ich völlig falsch. Und viel zu oft fühle ich mich ganz verloren, fremd und traurig in dieser Welt. Ohne Balance, ohne Halt. Und wütend. Verdammt wütend. Auf so vieles, was falsch läuft zwischen den Menschen, in dieser Gesellschaft.«
Andrea wedelt leidenschaftlich mit den Händen, kommt jetzt richtig in Fahrt: »Und nein, ich will so etwas nicht mehr! Ich möchte nicht mit Hass auf Hass reagieren, nicht mit Wut auf Wut, nicht mit Verachtung auf Verachtung – nicht mit Gegenangriffen! Ich will das nicht! Ich will nicht in diese Muster verfallen! Aber ich will auch nicht einfach hinnehmen, erdulden und ausblenden! Ich möchte widersprechen und meine Stimme erheben, aber keine Machtspiele spielen. Ich möchte euch übrigens auch nicht belehren, selbst wenn es vielleicht so scheint. Ich will euch vielmehr ein wenig aufrütteln und mit ins Boot holen!«
Sie holt tief Luft, blendet ihre Umgebung völlig aus – und setzt dann mit aller Kraft und Konzentration zum großen Finale an: »Wisst ihr – was ich euch vorhin eigentlich sagen wollte – als ich meinte, dass ich mir eine andere, eine bessere Welt wünsche? Ich wünsche mir eine Welt, in der alte Rollenbilder und -erwartungen durchbrochen werden, eine Welt in der mehr Freiheit herrscht, sich so zu entdecken und zu zeigen, wie man ist! Eine Welt ohne Mobbing, Hass, Extremismus und Homophobie, ohne Angst davor, wegen seinem Anderssein ausgegrenzt zu werden. Eine Welt, in der sich Menschen mit Offenheit und ehrlicher Neugier begegnen, sich kennen- und verstehen lernen, sich nicht an Äußerlichkeiten klammern und in Schubladen pressen! Und damit meine ich neben rassistischen Vorurteilen oder religiösen Ideologien – die Menschen manipulieren und unterdrücken – auch ganz besonders die starren Vorstellungen über Männlichkeit, Weiblichkeit und die Frage, in wen man oder frau sich verliebt! Eine Welt, in der die grundsätzliche Achtung vor dem Menschen an oberster Stelle steht, eine Welt, in der Mut, Ehrlichkeit und Authentizität belohnt werden, eine Welt, in der man sich gegenseitig unterstützt, statt nach Schwächen anderer zu suchen, um sich selbst größer und stärker zu fühlen. Und ja. Ich stehe hier vor euch als perfekte Zielscheibe. Ihr könntet jetzt wunderbar weitermachen mit euren boshaften Sprüchen und Kommentaren. Oder aber ihr schenkt mir einen guten Moment. Und lasst es einfach sein.«
Andrea atmet tief durch, blinzelt, kommt wieder in ihrer unmittelbaren Umgebung an. Sie blickt fasziniert auf die Jungs, die immer noch schweigend und perplex auf sie starren. Dieser Anblick bringt sie zum Schmunzeln. »Danke jedenfalls, dass ihr mir zugehört habt!«
Das ist der richtige Zeitpunkt, um zu gehen. Bevor es doch noch kippt. Sie zwinkert den dreien zu, dreht sich um und rauscht davon, die Treppe zum U-Bahneingang hinab. Ein Abgang, viele Male stärker und glorreicher, als es jeder Film-Cowboy jemals hinbekommen hat.