Thalia-Anna Hampf - Zerfallene Rufe (Literatur in schwierigen Zeiten)
Zerfallende Rufe
Das kalte Geländer schmilzt in meinen Händen. Glühendes Eisen läuft meine Arme entlang, legt meine Knochen frei. Ich weine blutrote Tropfen, die meine Wangenknochen freilegen. Ich moch-te meine Wangenknochen – glaube ich. Von oben regnet es Felsen. Warum trifft mich denn keiner? Erschlägt mich? Sie lachen mich aus. Immer wieder haben sie gelacht und ihr Lachen war grau und kantig und stumpf.
Drei Mal. Drei Mal habe ich ihren Namen geru-fen. Ich renne, ich fliehe. Vor ihr? Nein, vor mir. Ihre Knöchel sind weiß, ich sehe es von hier. Sie starrt nach unten. Nein nicht nach unten! Nach oben! Zu mir! Sie dreht sich nicht um. Vier Mal.
Schritte. Schnelle Schritte. Auslöschendes Tram-peln. Mein Schuh ist offen. Wird er sich verfan-gen? Sollte ich meine Socken ausziehen? Es kribbelt im Bauch zu fallen, wie tausend plat-zende Seifenblasen. Eine farbenfrohe Leere umgibt mich, aber ich bin blind, schwimme in dem, was übrig ist von mir.
Ich konnte nicht langsamer werden. Würde ihr Turnschuh nur einen Zentimeter über das Ge-länder ragen … Ich renne in sie hinein, wie in ei-ne Mauer. Eine leichte, gebrechliche Mauer. Möchte mich unter Tränen übergeben, mein Herz ausspucken. „Du kommst zu spät.“ Ich drücke sie von mir weg, starre in ihre Augen. Ausgelesene Bücher. „Ich bin gesprungen.“