10. Juni 2017 - aktueller Autor - Norbert Büttner

 



Büttner, Norbert



Autorenbiographie

Norbert Büttner

 

geb. 1962, wohnhaft in Berlin, Angestellter, veröffentlicht Lyrik und Prosa in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien.

 

 

Dezember


Mit einem Ruck blieb die U-Bahn stehen, die Türen sprangen stöhnend auf und wie schwarze Körner aus einer Büchse fielen Menschen auf den schmutzigen, nassen Bahnsteig, wirbelten um sich selbst und eilten den Ausgängen zu. Frostklare Luft schnitt die erregten Gesichter. Und wie eine tiefschwarze Zeltplane, in die viele bunte Lichter hineingesteckt sind, lag der Abend über dem Weihnachtsmarkt.
Sie war so müde und trieb wie Bruchholz im Strom. Ihr Kopf schmerzte, wenn Lärm an ihn schlug. Immer noch toste in ihr gleich einem Gewitter, das nicht abziehen will, die Schule – das Schreien und Toben der Kinder, die ungezügelte Kakofonie ihrer Handys ...
Die blinkende Beleuchtung der Buden und Karusselle stach ihre Augen. Wenn die Lichter sich bewegten, miteinander tanzten, sich mit den Karussellen hinaufschwangen und wieder zersplitterten, wurde ihr fast schwindlig. Es roch nach Glühwein und nach fettem Schweinefleisch, in ranzigem Öl gebraten. Sie musste sich zwingen, die Augen aufzuhalten. Wie entriegelte Fensterläden wollten sie immerzu zufallen. Neben ihr kreischten Mädchen, schmerzhafte Sirenentöne – es war wie ein Anstoß, der sie in ungeordnete, schnelle Bewegung versetzte. Als wäre sie eine Billardkugel, glitt sie über den Platz, vorbei an den Menschen, schwarz wie Schatten, deren Berührung sie vermied, drehte sich im Kreis und rollte an einem Imbiss aus.
Sie starrte auf die Auslage und versuchte, die wirren Muster in ihrem Kopf zu ordnen.
Der Verkäufer, dem das zu lange dauerte, schrie plötzlich: „Wollen Sie nun was? Die Füße können Sie sich woanders platt stehen.“
Erschrocken verlangte sie Glühwein. Der Plastikbecher verbrannte ihre Hand. Sie stellte ihn auf einem Stehtisch ab. Der Glühwein glich einem schwarzen Auge, in dem wie eine goldene Pupille das Spiegel-bild der Glühlampe, die über ihrem Kopf hing, leuchtete.
Jemand rempelte sie von hinten an, eine Bierflasche sprang auf den Tisch.
Sie fauchte wie eine Katze und drehte sich zur Seite.
Eine Wolke aus Tabak- und Alkoholgeruch senkte sich auf sie. Der Mann, zu dem sie gehörte – ein großer Kerl mit Seehundbart, in dem winzige Tropfen wie Perlen hingen – lachte ein sattes Lachen.
„Nun mach dich mal nicht so breit!“, rief er. „Wir können hier noch gut kuscheln.“
Der Becher flog in den Abfalleimer. Erneut rollte sie einer Billardkugel gleich durch die Menge.
Ein junger Mann mit alberner roter Weihnachtsmütze, deren Bommel ihm fast in die Augen hing, schaute sie nachdenklich an. Er lachte.
Sie erwiderte seinen Blick wütend und wollte wieder fauchen. „Sind Sie nicht Frau Träger?“, fragte der junge Mann. „Erkennen Sie mich nicht? Ich bin Fabian. Ich war vor acht Jahren in Ihrer Klasse. Sie haben mich durchs Zeugnis gebracht.“
Ihr Blick fing sich an seinem Mund, ein feuchter roter Strich, der sich unablässig wie eine Schlange wand.
„Sie waren so streng, ich hab Sie dafür beinahe gehasst“, sagte der Junge, „aber ich habe das gebraucht.“
„Ach ja“, sagte sie langsam, als würde sie sich erinnern.
„Wenn Sie mich nicht so gequält hätten, wäre ich nicht durchgekommen.“
„Ich weiß“, sagte sie und zog die Arme hoch, „es ist so kalt hier.“
„Gehen wir doch einen trinken“, schlug der Junge vor.
Sie betraten ein Zelt, das nicht so voll wie die anderen war, und setzten sich in eine Ecke. Eine dicke junge Frau, die trotz der Kälte im T-Shirt herumlief, servierte Punsch.
„Puh, ist der heiß!“, rief der junge Mann fröhlich und nahm die Weihnachtsmütze ab. Lockiges Haar stürzte bis auf die Schultern.
Sie rührte versonnen mit einem Plastiklöffelchen im Glas.
„Und Sie haben mich nicht vergessen?“, fragte sie. „Es ist doch so lange her.“
Der Junge lächelte.
‚Welch schöner Schwung dieser Lippen‘, dachte sie und kam in Versuchung, sie mit den Fingern ganz behutsam nachzuzeichnen.
„Aber wer könnte Sie vergessen? Ein jeder muss sich an Sie erinnern.“
‚Und wie auf seinen Wangen gesun¬des Apfelrot leuchtet und wie glatt und straff seine Haut ist.‘
Sie krampfte die Hand um das heiße Glas. Der Schmerz tat gut. Er lenkte sie ab von dem furchtbaren Verlangen, ihm durch seine lockigen Haare zu streichen und seine glatte Haut zu kneifen, bis sie rote Male aufwies. Sie wirkte so frisch. Sicherlich roch sie nach Sommer, nach junisattem, geschmeidigem Gras.
„Sie haben sich so viel Mühe gegeben. Sie haben mich richtig getriezt.“
Aus dem Glas schaute sie das schwarze Auge des Punsches an. Es schien sie zu mahnen, an etwas zu erinnern, das sie beinahe vergessen hätte. Ihr wurde wieder kalt.
„Ich habe Ihnen so viel Ärger bereitet“, sagte der Junge.
„Das ist lange her“, sagte sie und zwang sich, den Blick von ihm zu lösen. ‚Diese Sonne‘, dachte sie. „Das war gestern. Sie sind jung. Sie haben viel Kraft. Ihr Körper kennt keine Schwäche. Ihr Gehirn ist ein Trampolin für neue Gedanken. Sie sind wie frischer Ton, den das Leben noch nicht brennen konnte. Genießen Sie die Jugend, vergeuden Sie Ihre Kraft. Sie werden nichts davon behalten können.“
Sie begann zu zittern. Sie umklammerte den Tisch mit den Händen und versuchte es zu unterdrücken. Aber es wurde stärker.
Der Junge sah sie bestürzt an.
Sie sprang auf.
„Ich muss weiter“, sagte sie so bestimmt wie als Lehrerin, dass es jeden Einwand abschnitt, „es war sehr schön, Sie getroffen zu haben. Das ist ... wie ein Geschenk.“
Es nieselte. Der Platz glitzerte wie mit feinsten Glassplittern bestreut.
‚Dieses Lächeln, dieses Apfelrot‘, dachte sie und versuchte vergeblich, sich zu erinnern, in welcher Klasse er gewesen sein könnte. ‚Diese Locken. Und ich weiß nichts von ihm.‘
Sie glitt wie mit neuem Anstoß durch die Budenzeilen und landete in einer Bierhalle. Der Tresen war dicht umlagert. Zigarettenrauch umschwebte die Männer, die Schulter an Schulter saßen.
Sie zwängte sich durch die Reihen und erkletterte den einzigen freien Hocker unmittelbar am Zapfhahn, Grenzbereich zweier Männerrunden, die einander den Rücken zukehrten.
„Was hätten wir denn gern, Lady?“, fragte der Wirt.
„Ein Bier!“, rief sie und leiser: „Und einen Weinbrand.“
Einer der Männer drehte sich um. Sie sah in wassergraue Augen, die in einem Fältchenkranz lagen.
„Das ist ein schöner Abend“, meinte er, als sie den Weinbrand trank.
„Das kann stimmen“, sagte sie und leckte das Glas aus.