22.05.2024 - aktuelle Autorin - Sabine Tollkühn-Klein

Sabine Tollkühn-Klein
Kleine – Große Geschichte

Als Jugendliche hatte ich einen nicht ganz leichten Schul-wechsel zu bewältigen. Durch diesen Wechsel wurde mir bewusst, dass ich ein Handicap habe. Während des Unterrichts haben mich alle angeschaut, wenn meine Behinderung sichtbar wurde. Diese Behinderung (Tics) war mir unangenehm und störend. Für meine Mitschüler war ich ein Freak und Nerd. Täglich wurde ich wegen meines „Anders-sein“ gehänselt.
Als hätte ich nicht schon genug Probleme in der Schule, fing dann noch meine Abneigung gegen den Unterricht in der Religionslehre an. Diese Art der christlichen Erziehung hatte mich immer weiter vom Glauben abgebracht. Oft habe ich den wöchentlichen Unterricht mit einer Faust in der Hosen-tasche besucht.
Zu Hause gab es viel Stress bezüglich meiner Einstellungen. Besonders beim Thema Glauben waren alle Beteiligten verkrampft und merkwürdig. Manchmal habe ich gedacht: „Wa-rum reagierten sie so?“
Im Winter des Jahres 1984 kamen die Antworten. Was mir meine Eltern erzählt haben, hat mich unendlich traurig ge-macht.
Als Vertriebene im eigenen Land hatte meine Mutter viel Leid erleben müssen. Ganz besonders im Jahr 1938. Es war ein Tag im November, als ihre Familie die vertraute Welt verlassen musste. Ihr Wohnhaus wurde ausgeraubt und alle Fensterscheiben wurden eingeschlagen. Kunst und Literatur brannten in einem großen Feuer. Selbst der geliebte Teddy-bär meiner Mutter ist verbrannt worden. Sie hat geschrien und geweint. Ihr kleiner Bruder wurde von den Kindern aus der Umgebung geschlagen und bespuckt. Er konnte sich nicht wehren, da es zu viele Kinder waren. Synagogen und jüdische Einrichtungen brannten lichterloh. Fortan war ein Teil meiner Familie auf der Flucht.
Heute kennen wir diese widerliche Tat unter den Namen Novemberpogrome oder Kristallnacht.
Nachdem ich in der Schule über meine Familien-Geschichte berichtet hatte, musste ich nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen. Während der Weihnachtszeit kam ich in eine andere Klasse. Meine zwischenmenschlichen Probleme haben sich nie wieder verbessert. Schrittweise und behut-sam haben mir meine Eltern erzählt, was Menschen im Zweiten Weltkrieg mit Juden gemacht haben.
Nun wusste ich, warum mein Opa eine Tätowierung mit Zahlen auf seinem Unterarm hatte. Ich kannte ihn nur als traurigen und schweigsamen Mann. Verstanden habe ich, warum meine Oma stets wunderlich war. Manchmal hat sie geschrien: „Hilfe, sie kommen uns holen.“ Oft habe ich mich für meine Oma geschämt. Als ich die Wahrheit wusste, war ich entsetzt über mein Verhalten. Meinen Onkel habe ich nie kennenlernen dürfen, er ist als junger Mann verstorben.
Dass wir christlich erzogen wurden, kann ich zum Teil ver-stehen. Meine Eltern wollten uns Kinder schützen. Heute weiß ich, dass der Preis zu hoch war. Ein Teil meiner Familiengeschichte ist mit der Zeit verloren gegangen.
Nun haben wir das Jahr 2023 und der Antisemitismus ist weiterhin allgegenwärtig in Deutschland zu spüren. Eine traurige und beängstigende Realität. Verstehen kann ich diese ganzen Anfeindungen nicht. Manchmal möchte ich laut schreien: „Hey Leute, was ist mit euch los?“ Aber so wurde ich nicht erzogen.
Zum Gedenken meiner jüdischen Wurzeln zünde ich jeden Freitag kurz vor Sonnenuntergang zwei Kerzen an. Dieses Ritual habe ich lieben gelernt. Alle Jahre wieder gehört das jüdische Lichterfest (Chanukka) genauso zu meiner Identität wie das christliche Weihnachtsfest.
Nun hätte ich fast vergessen zu erwähnen: „Meinen Schulabschluss habe ich geschafft.“
Heute sehe ich diese Schulzeit als Stigmatisierung. Aus mei-nem Berufswunsch wurde leider nichts. Meine Behinderung war damals ein Ausschlusskriterium. Mit meiner Berufsauswahl habe ich mich arrangiert. Vor circa 35 Jahren bin ich aus der Kirche ausgetreten und gehöre offiziell keiner Religionsgemeinschaft an. Nun lebe ich mein Leben wie es ist, denn ich bin so, wie ich bin.

Hevenu Shalom Alechem ... Wir wollen Frieden für alle … May there be peace in the world …

 

Aus: Leben will sich neu entfachen. Geest-Verlag 2024

Sabine Tollkühn-Klein
56 Jahre alt u. Asperger Autistin mit einer Lese-Rechtschreibschwäche.