27.08.2020 - aktueller Autor - Günter Pilgrim
Günter Pilgrim
1931 in Mecklenburg-Vorpommern geboren, Abitur in Waren (Müritz), Studium in Rostock. Pastor in Boddin bei Teterow und in Parchim, Domprediger in Schwerin, Leiter der Evangelischen Akademie Mecklenburg. Seinen Ruhestand verbrachte er in Rotenburg an der Wümme.
Seit 1995 veröffentlichte er zehn Bücher, wobei insbesondere ‚Die Ameisenstraße, 40 Jahre Pastor in der DDR‘ bundesweite Anerkennung fand.
Den vorliegenden Band ‚Wenn die Engel Überstunden machen‘ stellte der Autor noch vor seinem überraschenden Tod im Jahre 2010 zusammen.
Ausschnitt aus:
Das Versteck
Eine Geschichte um Ernst Barlachs Engel
„Wir fahren in das Engeldorf, kommen Sie mit?“
„In das Engeldorf? Wie meinen Sie denn das?“ Ich musste lächeln. Engeldorf! So kann man es auch nennen!
Unsere Bekannten aus dem Nachbardorf waren am Telefon. „Ja, ja“, sagte er. „Engeldorf, Sie haben richtig gehört. Sie haben doch davon erzählt, neulich bei unserm Zusammentreffen, wissen Sie noch? Und dann haben wir gedacht, das machen wir sofort. Gute Pläne soll man nicht aufschieben.“ Unsere Bekannten waren fest entschlossen, die Stelle, wo der Engel ein¬mal lag, zu suchen. „Muss ja zu finden sein“, sagte er. „Sie haben uns berichtet, dass der Engel in dem Dorf am Rand der Lüneburger Heide über zehn Jahre vor den Nazis versteckt gewesen ist. Das hat uns brennend interessiert. Ist ja schließlich ein ganz prominenter Engel gewesen. Ein deutschlandweit bekannter Engel sozusagen. Na ja Sie wissen schon.“
Klar wusste ich. Ich wusste, um welchen Engel es sich handelte. Ich hatte öfter darüber gegrübelt. Wo mag diese Stelle gewesen sein? In den einschlägigen Berichten hieß es: „Ver-graben am Rand der Lüneburger Heide.“ Oder: „Versteckt auf einem Bauernhof in der Heide.“ Ziemlich allgemeine Angaben. Aber wo war die Stelle genau? Die Frage lag mir schon lange auf der Seele. Ich wollte dieses Engelversteck irgendwann finden. Als wir von Mecklenburg nach Rotenburg zogen, da wurde die Frage dringender. Jetzt war ich näher dran. Die Hei-de lag schließlich vor der Tür. Doch wo konnte das Versteck sein? Hinradeln? Die Gegend ab-suchen? Unsinn! Die Heide ist groß. Und die Angaben in den Sachbüchern waren viel zu vage. Aber ich musste das Versteck finden, ir-gendwie. Jetzt hatte ich Bundesgenossen. Kunstfreunde, die wie ich das Versteck aus-findig machen wollten. Ein gutes Zeichen. Nur ja nicht nachlassen.
Unser Bekannter war, so kann man sagen, ein Zeitungsmann. Er gab seit Jahren die Mo-natsbeilage einer Kreiszeitung heraus und war ein Kunstfreund. Er hatte Feuer gefangen. Das gefiel mir.
„Also, wann soll es losgehen? Ich bin dabei.“
Mir war der Engel, der über zehn Jahre in der Heide gewesen war, seit vielen Jahren ver-traut. Ich hatte in der Nähe von Güstrow, in Rostock, studiert. Ich war bei Güstrow auf meiner ersten Pfarrstelle gewesen. Immer mal wieder in jenen Jahren fuhren wir nach Güst-row in den Dom, wo der Engel seit 1952 wie-der seinen Platz hat. Der Güstrower Bildhauer Ernst Barlach hatte ihn geschaffen. Und 1927 war der Engel – oder ‚Der Schwebende’, wie er eigentlich hieß – im Dom aufgehängt worden als ein Mahnmal gegen den Krieg und als ein Zeichen der Trauer um die vielen Toten. Es war ein ungewöhnliches Kunstwerk. Sehr gewöhnungsbedürftig, zuerst heftig abgelehnt, aber je länger er hing, desto mehr anerkannt und von Besuchern aus der ganzen Welt aufgesucht und geschätzt. Der Schwebende ist eine auf den ersten Blick klobige Bronzefigur, die schwebt. Das gibt es doch nicht, denkt man, eine Tonnenschwere schwebt! Was soll das? Das geht doch überhaupt nicht! Aber wenn man sich Zeit lässt, wenn man ausharrt und hinsieht, dann geht es einem auf. Die Trauer einer ganzen Generation ist eingefan-gen. Die Trauer, die das Herz schwer macht und nach unten zieht. Die erdrückt und erstarren lässt. Entsetzliche millionenfache Trauer. Wird sie den Menschen erschlagen? Das wird sie nicht. Auf geheimnisvolle Weise wird eine Botschaft deutlich: Hier gibt es etwas, das es nicht gibt! Man kann im Leid gehalten werden. Man saust nicht in die Tiefe, man wird nicht zermalmt. In den Heiligen Schriften heißt es dazu: „Als die Sterbenden und siehe, wir leben. Als die, die nichts haben und doch alles haben.“ Es ist die Paradoxie der Gnade. Deshalb schweben die Tonnenschweren, und sie tun das gegen alle Vernunft. Gnade ist stärker als Vernunft. ...